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Er trank sein Bier. Berlin machte sich gut hinter der Frontscheibe, leuchtete bescheiden in den Nachthimmel, floss mäßig betriebsam die Invalidenstraße entlang und streckte sich aus wie ein geduldiger Patient auf seinem Bett. Die leere Dose erlaubte sich Weidmann aus der geöffneten Fahrertür in den Sand fallen zu lassen. Dann beschloss er der Aufforderung zu folgen, die von dem Haufen Pflastersteine vor dem Eingang ausging.

Weidmann setzte zurück und parkte das Auto mit der Schnauze direkt vor der Öffnung im Bauzaun.

Die Tür ließ er offen, den Schlüssel stecken. Bevor er den Steinhaufen erreichte, drehte er sich noch einmal um und vergegenwärtigte sich die Route: Nach links, die Chausseestraße rechts hinauf, immer geradeaus bis in den Wedding. Von der Seestraße auf die Autobahn. Weder Zahnbürste noch Wäsche zum Wechseln hatte er dabei, aber das eine konnte man auf Rastplätzen kaufen, und vom anderen würde in Bergenstadt noch was im Schrank liegen.

Der Stein, den er in die Hand nahm, war schwerer als erwartet. Er blickte sich um, aber der Parkplatz lag leer, die Geschäfte waren geschlossen, und die Bars befanden sich anderswo. Weidmann wog den Stein in der Hand und sah die Fassade hinauf. Zweiter Stock, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Prof. Dr. Dr. hc. mult. Schlegelberger und seine illustre Mannschaft. Es war ihm eigentlich egal, welches Fenster er traf. Wenn du keinen Schlussstrich ziehen kannst, dann setz einen Punkt. Ein letzter Blick, vom Nordbahnhof näherte sich eine Tram, und als er das Quietschen der Bremsen hörte, holte Weidmann aus und schleuderte den Stein. Drehte sich noch in dem Moment der Stille um, den der Stein im Bogen durchflog, hörte das Bersten von Glas und ging ohne Hast zum Auto.

Keine Sirene, kein Rufen, keine Reaktion nirgends. Nur sein Herz klopfte lauter als gewöhnlich, und seine Hand zitterte, als er den Zündschlüssel drehte. Die Tram hielt noch, er hatte freie Fahrt. Im Rückspiegel sah er das Spinnennetzmuster in einem der Fenster. In der Mitte ein schwarzes Loch. Es konnte Schlegelbergers Fenster sein, aber er war sich nicht sicher.

3

Kommers, dachte er, ist ein komisches Wort. Vorne kurz und hinten lang. Es bedeutet, dass alle auf den Marktplatz gehen, weil morgen der Grenzgang beginnt. Es bedeutet, dass es jetzt endlich losgeht. Sein Vater hatte ihm fünf Mark gegeben und erlaubt zu kaufen, was er wollte, und seine Mutter hatte ›Muss das sein?‹ gesagt und sein Vater ›Ist schließlich nur alle sieben Jahre‹, und dann waren sie losgegangen. Sein Taschenmesser steckte in der Hosentasche für den Fall, dass irgendwo ein Ast abgeschnitten werden musste. Beim Grenzgang gingen extra zwei ganz vorne im Zug mit Äxten und Sägen, falls ein umgestürzter Baum den Weg versperrte (obwohl das nie vorkam, meinte seine Mutter), er hatte die Fotos in der Zeitung gesehen, zusammen mit denen vom Mohr und den beiden Wettläufern. Der Mohr allerdings war in echt nicht schwarz, das wusste er, sondern arbeitete bei der Post.

«Jetzt trödelt nicht so!«, rief er über die Schulter. Aber die kamen und kamen nicht!

Am liebsten wäre er Wettläufer. Einmal war er mit seinem Vater runtergegangen auf die Lahnwiesen und hatte beim Training zugeschaut. Schon im Mai hatten die angefangen, immer abends, und das Knallen war in der ganzen Stadt zu hören gewesen, sogar hinten am Hainköppel. Sein Vater hatte ihm die Peitsche gezeigt von früher, aber verboten, damit im Garten zu spielen — zu gefährlich für ihn und die Rosen. Es war auch schwerer, als es aussah: Sie ließen das Seil erst fünf oder sechs Mal über dem Kopf kreisen, und dann kam’s drauf an, genau den richtigen Moment zu erwischen, um die Bahn zu ändern und mit gestrecktem Arm zu knallen, immer vor dem Körper, links oben und rechts unten, knall, knall. Sein Vater konnte es noch, aber nicht mehr so lange wie früher. Nobs sagte immer: Das geht tierisch auf die Arme. Es gab extra eine Schlaufe ums Handgelenk, damit ihnen die Wucht die Peitsche nicht aus der Hand riss. Letztlich war’s eine Frage der Technik. Muckis brauchte man auch. Technik und Muckis. Und tierisch Kondition.

Oben am Bürgerhaus wartete er und schnitt sich einen Ast ab, der an eine Laterne gebunden war mit dunklem Draht, aber dann kam jemand vorbei und sagte» Na, na, na«, und er steckte den Ast wieder zurück. Besser war sowieso, sich frisch einen im Wald abzuschneiden. Buche war das Beste.

Sie würden am Marktplatz bleiben, bis es dunkel wurde.

«Jetzt kommt doch endlich!«, rief er. Sie kamen hinter ihm den Berg hoch und sprachen mit irgendwem, der auf der anderen Straßenseite ging. Herr Endler wollte Tommy auf die Schulter nehmen, aber der wehrte sich. Seine Mutter ging so, wie nur Frauen gehen, mit verschränkten Armen (und dann gehen sie besonders langsam). Als ob sie überhaupt keine Lust hätte. Er klappte sein Messer auf und wieder zu. Mit seinem Vater hatte er gewettet, dass er alle drei Tage schaffte, die ganze Strecke. Wenn er alle drei Tage schaffte — und sein Vater das mit seiner Mutter geregelt bekam —, dann kriegte er die Peitsche.

«Wie Schnecken geht ihr«, sagte er, als seine Mutter endlich oben ankam.

«Der Marktplatz läuft uns nicht weg. Hast du deine Uhr dabei?«

«Klaro.«

«Um halb zehn ist für uns Zapfenstreich. Allerspätestens.«

«Wir bleiben, bis es dunkel ist.«

«Um halb zehn ist es dunkel. Und wir gehen nach Hause. Wir müssen morgen um halb sechs raus.«

«Ich denke, wir schauen mal, wie dunkel es dann ist.«

«Daniel, hör mir zu: Wir gehen um halb zehn nach Hause, und darüber wird auf dem Marktplatz auch nicht mehr diskutiert. Ich hab keine Lust, morgen ein quengelndes Kind über die Grenze zu ziehen. «Die war wieder toll gelaunt.

«Es ist nur einmal in sieben Jahren«, sagte er.

«Zum Glück.«

Er hörte die Musik auf dem Markplatz, und weil die anderen immer noch nicht kamen, zog er seine Mutter an der Hand und sagte:

«Wir gehen vor, sonst stehen wir um halb zehn immer noch hier oben.«

Am schnellsten ging es auf dem Fußweg den Gartenberg runter, der so steil war, dass nicht mal Fahrräder fahren durften. Als Nobs seine Stoppuhr bekommen hatte, waren sie von oben losgerannt und hatten eine Minute und siebzehn Sekunden gebraucht bis ganz nach unten zur Ampel. Hoch hatten sie’s noch nicht gestoppt, wegen der Schulranzen. Es gab den Weg und links daneben eine schmale Bahn, in die alle paar Meter ein oder zwei Stufen eingebaut waren. Mit einem BMX-Rad konnte man drüberfahren, wenn keiner in der Nähe war.

«Fahren wir nächstes Jahr wieder in Urlaub?«, fragte er.

«Nächstes Jahr ist nächstes Jahr.«

«Dieses Jahr fahren wir nicht, weil Grenzgang ist, aber nächstes Jahr ist kein Grenzgang.«

«Ist ein bisschen früh, das jetzt zu entscheiden.«

«Wir könnten mal einen Wohnwagen mieten.«

«Wir werden sehen.«

«Abgemacht?«

«Wir werden sehen, Daniel.«

Er spürte ihre Hand auf seinem Kopf, in seinem Nacken und ihren Blick irgendwo anders. Schon den ganzen Sommer über war das so. Sie stritten nicht viel, aber sie schüttelten häufig die Köpfe und sprachen komisch, wenn er dabei war. Als müssten sie vorsichtig sein und gleichzeitig so, als wäre er nicht da.

Du und dein Scheißgrenzgang. Das hatte sie in der Küche gesagt und dann nichts gegessen, obwohl sie sonst immer sagte: Wir essen alle zusammen, das hier ist schließlich kein Hotel.

«Was heißt stagnieren?«, fragte er.

«Stehenbleiben.«

«Es heißt auch noch was anderes.«

«Ich versteh dich nicht, wenn du den Berg runter sprichst.«

Also blieb er stehen, legte den Kopf in den Nacken und sprach dahin, wo ein Bussard kreiste:

«Es heißt auch noch was anderes.«

«Es heißt stehenbleiben. Nicht weitergehen. Nicht vorankommen.«Frag mir nicht dauernd Löcher in den Bauch.