Sie stagnierten also, weil seine Mutter nicht vorlaufen wollte, sondern lieber warten auf die anderen und sich bei seinem Vater unterhaken. Hinter der Kurve konnte er die Leute auf dem Marktplatz schon sehen, und als er unten ankam, waren die anderen erst beim Kindergarten. Das Taschenmesser steckte in der Tasche mit dem Druckknopf, das fiel nicht mal raus, wenn er einen Handstand an der Wand machte. Zweiunddreißig Sekunden schaffte er, Nobs hatte es gestoppt und gesagt: Du bist tierisch rot im Gesicht.
Er winkte den Berg rauf und ging einfach weiter.
Der Marktplatz war voll. Neben der Eisdiele hatten sie ein Holzgerüst aufgebaut für morgen, da oben standen dann die vom Komitee und der Bürgermeister. Die Straße war auch schon gesperrt, überall gingen Leute, wie beim Stadtfest, auch eine Kapelle marschierte da lang, und für einen Moment fühlte er das Trommeln in der Kehle. Mit Nobs hatte er vereinbart: Am Brunnen, aber zum Brunnen zu kommen war nicht so einfach. Leute standen auf den Bänken und wedelten mit den Armen und waren höchstwahrscheinlich besoffen. Einer schrie so laut, dass man ihn kaum verstand:»Der Grenzgang 1999, er lebe …«Und alle anderen schrieen:»Hoch!«Drei Mal. Er musste schieben, um voranzukommen, weil immer die mit dem dicksten Hintern da standen, wo am wenigsten Platz war. Nobs konnte er noch nicht entdecken, aber kurz vor dem Brunnen hielt Tante Schuhmann aus der Bäckerei ihn am Arm fest, als er am Tisch vorbeiging, und fragte:
«Du bist doch wohl nicht ganz alleine hier?«Sie hatte einen Hut auf mit lauter Abzeichen dran.
«Fast«, sagte er.»Die anderen sind zu lahm.«
Neben ihr saß Heinrich, der ihm mal die Backstube gezeigt hatte und der Mohr gewesen war im selben Jahr wie sein Vater Wettläufer. Auch davon gab’s ein Foto im Wohnzimmer, auf dem aber alle anders aussahen. Altmodisch halt. Heinrich hatte ein Riesengesicht und nickte allen Leuten zu, bis Tante Schuhmann ihn in die Seite stieß und sagte:
«Wir haben bestimmt was für den jungen Mann hier.«
Heinrichs großer Kopf nickte einfach weiter. Sie hatten Bons. Eine ganze Schlange kam aus seiner Hemdtasche und baumelte in der Luft, und zwei Stück riss er ab und sagte:
«Grenzgangsgeld. Für einen Bon gibt’s eine Fanta. «Auf seinem Hut waren noch mehr Abzeichen. Sein Hut war auch größer.
«Ich trink Cola«, sagte er.
«Oder Cola. Hauptsache kein Bier, alles klar? Vom Bier keinen Schluck.«
«Kapito«, sagte er. Dann ging er weiter.
Nobs saß schon auf den Stufen. Um den Brunnen herum waren Theken aufgebaut, und dahinter stapelten sich Getränkekisten, und ein Kasten brummte, aus dem Strom kam. Die Lampions brannten noch nicht.
«Hi«, sagte er.
«Okay. «Nobs stand auf.»Das hier ist unser Bereich.«
Sie waren diejenigen, die aufpassen mussten, dass sich niemand was aus den Getränkekisten nahm oder die Stecker aus dem Stromkasten zog oder in den Brunnen pinkelte. An Grenzgang passierten Sachen, die sonst nicht passierten, und es war nicht leicht, den ganzen Brunnen zu überwachen, weil er Stufen hatte und man nicht von einer Seite zur anderen gucken konnte. Einer von den Verkäufern machte mit und stellte zwei leere Getränkekisten an den Baum, so dass sie draufklettern konnten. Sie wechselten sich ab: Einer hielt auf den Kisten Wache, und der andere ging Streife. Einmal ging Nobs Cola holen. Danach wechselten sie sich wieder ab.
Sie hatten noch gar nicht lange gespielt, als er Linda sah. Er drehte seine Runde, und sie stand da neben der Theke, hinter dem Brunnen, und bei der nächsten Runde stand sie schon fast auf der ersten Stufe, und bei der nächsten stand sie ihm im Weg.
«Was macht ihr?«, fragte sie.
Sie hatte einen Haarreif im Haar, so dass er ihre Ohren sah. Und eine Kette mit Perlen wie aus dem Kaugummiautomaten. Ziemlich bunt.
«Nichts«, sagte Nobs hinter ihm.
Sie gingen alle in dieselbe Klasse, aber das hieß nicht, dass sie Freunde waren oder so.
«Kann ich mitmachen?«
«Wir …«
«Nein«, sagte Nobs.»Wir schaffen das alleine.«
Sie zog an ihrer Kette, und dann nahm sie einfach eine von den Perlen und knabberte sie ab. Die Unterlippe musste sie nach vorne schieben, damit kein Stück runterfiel.
Irgendwann gingen die Lampions an.
Er sah nicht auf die Uhr, weil er Angst hatte, dass die Zeiger dann schneller liefen. Manchmal sah er seine Mutter, da wo die von der Rheinstraße standen, und immer wieder stand irgendwo einer auf und schrie: Der Grenzgang 1999, er lebe … Oder: Die Männergesellschaft Rheinstraße, sie lebe … Und alle schrieen: Hoch! Hoch! Hoch! Einmal kamen zwei, um sich hinter dem Stromkasten zu küssen, und Nobs verdrehte die Augen. Die merkten nicht mal, dass sie beim Küssen ihr Bier verschütteten.
Dann holte er zwei Würstchen, und sie setzten sich vorne auf die Stufen, wo man den Marktplatz runtergucken konnte, wo alles voll war mit Leuten und unten wieder eine Kapelle spielte. Es war noch nicht dunkel, aber auch nicht mehr hell, und als er nicht aufpasste, sah er die Uhr an der Bushaltestelle. Neun Uhr war’s.
«Weißt du, was stagnieren heißt?«, fragte er.
«Wenn man beim Baum die Rinde abmacht.«
«Du rätst bloß. Es heißt stehenbleiben.«
«Und du glaubst, man kann die Rinde abmachen, ohne stehen zu bleiben. Kannste ja mal versuchen.«
«Geht mit dem Taschenmesser sowieso nicht. Man braucht Macheten, wie im Urwald.«
Eine Weile sprachen sie über die richtige Technik, erst beim Holzmachen und dann beim Peitschenknallen, und die ganze Zeit guckte er auf die blöde Uhr bei der Bushaltestelle, die in kleinen Sprüngen auf halb zehn losging. Dann sagte er, was er schon die ganze Zeit dachte:
«Wir hätten noch jemanden gebrauchen können, eigentlich. Wenn wir vorne sind …«
«Kein Mädchen.«
«Auf der hinteren Seite natürlich.«
Aber Nobs schüttelte den Kopf und sagte:
«Möchte bloß wissen, ob das große Zelt schon steht.«
«Logo. Glaubste, die bauen das erst morgen auf.«
«Ich will’s aber sehen.«
«Ich muss um halb zehn nach Hause. «Und es war Viertel nach neun.
«Wenn wir rennen — am Altenheim vorbei, wo die kleine Brücke ist. Nur kurz gucken.«
Er wollte kein Spielverderber sein, und er wollte das Zelt auch sehen, von dem sein Vater gesagt hatte, dass alle Leute, die in Bergenstadt wohnten, da reinpassten. Aber wenn’s später wurde als halb zehn, war das schlecht.
«Ich muss erst fragen«, sagte er.
Sie gingen den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, aber Tante Schuhmann und ihren Mann entdeckte er nicht mehr. Es war noch voller als vorher, und von manchen Tischen tropfte Bier. An der Bushaltestelle kotzte jemand, und zwei andere standen daneben und lachten. Wenn er nach oben sah, war der Himmel dunkel. Sie gingen mitten auf der Straße, kletterten über die Absperrgitter, an denen Leute lehnten, und dann an der Eisdiele vorbei, wo die Rheinstraße ihren Stand hatte. Seine Mutter saß mit Onkel Hans am Tisch.
Er sah ihr an, dass sie geredet hatten. Nobs blieb beim Gitter stehen.
«Na, junger Mann. «Onkel Hans sagte immer ›Na, junger Mann‹ und dann nichts weiter. Und er sagte» Hi «und stellte sich vor seine Mutter. Hatte Lust, sich mal kurz auf ihren Schoß zu setzen, aber das ging natürlich nicht. Auf dem Tisch standen zwei halbvolle Biergläser. Müde sah sie aus, drehte sich halb, stützte den Kopf auf eine Hand und sah ihn an.
Er tat so wie manchmal, wenn sie Witze machten: Wie die ganz Coolen im Fernsehen stellte er sich an den Tisch, wackelte mit den Schultern und nickte ein paar Mal, wie ein Rapper, und sagte:
«Na … Mama.«
Sie machte mit, kniff ein Auge zu, hob zwei Finger und sagte:
«Hey … Däniel. «Manchmal war sie nicht wie andere Mütter, sondern so als würde sie ihm gleich gegen die Schulter boxen aus Spaß. Manchmal tanzte sie im Wohnzimmer und sagte: Ganz schön flott deine Mutter, was? Aber nicht mehr oft, und er wusste nicht genau, wann es angefangen hatte aufzuhören.