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Er hatte lange nicht mehr so gesessen und in die Nacht geraucht. Statt schlechten Gewissens machte sich eine Art von Verlangen in ihm breit, wie man es bei der Ankunft am Urlaubsort empfindet, diese Mischung aus Freude und Heimweh, jedenfalls wenn man in der Nacht ankommt. Möglichkeiten wurden zu Gedanken: nicht nach Bergenstadt, sondern weiter ans Meer zu fahren. Irgendwo in Küstennähe würde eine Pension stehen mit Blick auf endloses Blau. Ein Gast ohne Gepäck sein, der die Phantasie der Betreiber beschäftigt, sie dazu bringt, noch einmal die Zeitung von gestern durchzusehen … Aber er wollte sich keinen Illusionen hingeben. Tageslicht würde seinem Gefühl den Garaus machen, hier oder dort, in Bergenstadt oder am Meer. Er war nicht der Typ fürs Provisorium. Er führte Buch über die Bücher, die er las. Den Gedanken, seine Mutter anzurufen, erwog er und verwarf ihn wieder. Nichts würde er unternehmen, was ihn verpflichtete, zu tun, was er sich vorgenommen hatte — er tat es ja sowieso. Und er war zu müde, um die Nacht durch zu fahren.

Mit langsamen Schritten ging er über den Parkplatz. Hier und da standen Autos mit Fahrrädern oder Surfbrettern auf dem Dach, Kinder hingen schlafend in den Gurten oder tappten an der Hand ihrer Eltern Richtung Toilette. Eine Frau stillte ihr Baby, und Weidmann blickte diskret zur Tankstelle, wo Männer neben Zapfsäulen gähnten, sich im Nacken kratzten und die Arme streckten. Der Anblick brachte ihm seine eigene Müdigkeit zu Bewusstsein. Am vernünftigsten wäre, ein paar Stunden zu schlafen, notfalls im zurückgeklappten Fahrersitz. Er betrat die musikunterlegte Stille des Aral-Shops, entschied sich nach einem Blick auf die mürrischen Gesichter der Bedienungen gegen den nierenförmigen Theken-Parcours entlang der Essens- und Getränkeausgabe und begnügte sich mit zwei abgepackten Sandwichs aus dem Kühlregal und einer Dose Bier. Ohne nachzudenken, aber nach einer schnellen Vergewisserung, dass sich vor der Kasse keine Schlange gebildet hatte, nahm er ein in Plastik eingeschweißtes Magazin aus dem Zeitschriftenständer. Beim Bezahlen hielt er die Augen auf das Kaugummisortiment neben der Kreditkartenmaschine gerichtet. Albern, dieser erhöhte Pennälerherzschlag. Als er schon draußen war, fiel ihm ein, dass er auch hätte tanken müssen.

Erst in einiger Entfernung von den Lichtern des Rasthofs fand er das Gefühl wieder, das ihn beim Aussteigen empfangen hatte: Einsamkeit in ihrer flüchtig süßen Form, derselben Form wie Erwartung — schlank und gleichzeitig schwungvoll gerundet. Er warf das Magazin auf den Beifahrersitz und hörte Konstanze fragen: So schlimm?

So schlimm oder so schön. So bitter und so neu. Sein Alltag war in einem großen, blauen Plastiksack verschwunden und wartete unten bei den Mülltonnen auf die Weiterfahrt. Das Wort ›Abwicklung‹ kam ihm in den Sinn: die Sachlichkeit einer Prozedur ohne handelndes Subjekt. Und Konstanzes Rücken, merkwürdigerweise, der schlankste, grazilste, weichhäutigste Frauenrücken, über den seine Finger und Lippen je gefahren waren, aber jetzt fuhr er weg von ihr, und auch das fühlte sich … Er setzte sich wieder auf den Tisch, stützte die Füße auf die Bank. Es fühlte sich gut an, einfach nur gut. Weidmann aß die zwei Sandwichs, trank Bier und rauchte. Wie das Wiederfinden eines Kartons mit alten Fotos, Briefen, Krimskrams in einem lange gemiedenen Speicher: die Wiederentdeckung eines verschütteten Reichtums von rein persönlichem Wert. Es war unwahrscheinlich, dem eigenen Leben so schnell entfliehen zu können, und trotzdem kam es ihm so vor. Als wäre die A 2 eine Einbahnstraße und Umkehr undenkbar. Er rauchte seine vierte oder fünfte Zigarette, und zum ersten Mal schmeckte es ihm. Das hieß doch: Es bedurfte nur einer kurzen Zeit der Umgewöhnung, da war noch genug anderes Ich in ihm, ein zähes und kampfbereites, das nicht einmal die stickige Luft einer deutschen Bildungsanstalt hatte zur Mumie werden lassen. Wie er es verwenden würde, wusste er noch nicht, einstweilen war er froh über die unerwartete Gesellschaft dieses anderen Selbst.

Ein Wagen rollte vorbei und hielt drei Parkbuchten entfernt. Die Scheinwerfer erloschen, das Licht im Innenraum ging an, synchrone Elternblicke richteten sich auf die Rückbank. Im Kofferraum des Kombi stapelte sich das Gepäck bis zur Decke.

Er war überrascht, wie absurd ihm der Gedanke vorkam, Konstanze anzurufen.

Nach dem zweiten Klingeln hob sie ab.

«Ich bin’s«, sagte er und blies Rauch in die Nacht.

«Wo bist du?«

«Kurz vor Magdeburg.«

«Erst?«

«Viel Verkehr«, log er. Von seinem steinernen Abschiedsgruß ins Institut wollte er lieber nichts sagen. Sie würde ihn für wahnsinnig halten.

Wie ein Blatt, das vor dem Versinken kurz auf der Wasseroberfläche gelegen hat, ging ihr Gespräch in Schweigen unter. Fahrer- und Beifahrertür des Kombi sprangen auf, Vater und Mutter stiegen aus, er öffnete die linke, sie die rechte Seitentür, alles synchron, eingespielt, familiär. Erst als ein Kind getragen wurde und das andere selbst lief, wurde aus dem Muster ein lebendiges Bild.

«Warum rufst du an?«

«Wollte nur mal deine Stimme hören.«

«Ich hab aber keine Lust, einfach irgendwas zu sagen.«

«Sei nicht so kratzbürstig. Ich sitze auf dem Rastplatz und hatte Lust dich anzurufen. Ich hab mir keinen Grund zurechtgelegt.«

Das ältere der beiden Kinder, ein Mädchen im Kindergartenalter, kam in seine Richtung gelaufen und blieb in einigem Abstand stehen. Sah ihn an. Er winkte, und sie legte den Kopf schief und rannte zurück zu ihrem Vater. Genau genommen hatte er auch keine Lust, einfach irgendwas zu sagen.

«Soll ich ihn nicht lieber hier wickeln?«, fragte die Frau vom Auto aus.

Nein, dachte Weidmann. Er wollte nicht zum Beobachter intimer Kinderpflege werden. Die ganze Familie störte ihn, und Konstanze schwieg noch immer. Am Schreibtisch sitzend, in der Vorbereitung ihres Unterrichts unterbrochen, er hörte leise Musik im Hintergrund und wunderte sich, dass es ihn nicht verlangte, dort hinter ihr zu stehen und ihr die Schultern zu massieren, bis sie beschloss, die restliche Vorbereitung am Morgen zu erledigen.

«Du weißt es selbst«, sagte sie schließlich. Wie immer machte sie es ihm leicht, alles abzustreiten, sich der Wendung des Gesprächs zu verweigern, nicht einzuräumen, dass er zwar wörtlich genommen Recht hatte, aber wenn man alles andere einbezog — das Magazin auf dem Beifahrersitz, seine frei schwingenden Gedanken, die Bereitschaft zur Flucht —, dann nicht mehr. Alles in allem hatte er selten Recht, und vielleicht deshalb oder wegen der Entfernung zwischen ihnen verzichtete er diesmal auf Leugnung. Verteidigte sich eher gegen das Schweigen als gegen ihre Vorwürfe.

«Das, was ich zehn Jahre und länger als meinen Beruf angesehen habe, ist heute …«

«Nicht heute«, unterbrach sie ihn.»Vor Monaten.«

Zu seiner Erleichterung hatte die Familie beschlossen, den Wickelraum im Rasthof aufzusuchen, und Weidmann sah ihnen nach, Vater und Tochter, Mutter mit Sohn. Es war ihm nie gelungen, eine Vorstellung von sich als Familienvater zu entwickeln: beim Vorlesen von Geschichten am Bettrand, der Kontrolle von Hausaufgaben, der Planung eines Kindergeburtstags. Da war etwas in der Muskellosigkeit von Familienvätern, das ihm vorkam wie eine rote Clownnase oder eine Schürze mit Papa ist der Beste-Aufschrift. Wie ein Spritzer Ketchup auf der Brille.

Schwachsinn! hatte Konstanze dazu gesagt.

«Vor Monaten, ja. Vor einer im Vergleich zu den zehn Jahren davor relativ kurzen Zeit. Und vielleicht ist mir die Tatsache in ihrer Endgültigkeit erst heute so richtig zu Bewusstsein gekommen. Oder vielleicht wird sie mir erst in den nächsten Tagen und Wochen so richtig zu Bewusstsein kommen, wer weiß.«