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… Grenzgang — sie nickt. Das ist es wohl, worauf ihre Gedanken hinauswollten.

Anni geht zur Ladentür und stellt sich in den offenen Eingang, blickt die Bachstraße hinauf und über die Rheinstraße hinweg auf den schmalen Ausschnitt des Marktplatzes, den sie von hier aus sehen kann: das Kopfsteinpflaster und den Rand des Brunnens, den Eingang der Schlossapotheke. Auch da ist dieses Licht und spielt in den Blättern der Linden. Wenn sie die Augen schließt, hört sie von weit weg die Musik des Spielmannszugs, das Getrappel der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster, das Peitschenknallen, die gespannte, feierliche, summende Stille über tausend Köpfen und das Flappen der Fahnen in der Morgenluft. Leise Geräusche, die langsam näher kommen: Ein Anschwellen in der Luft, ein Vibrieren des Bodens, und im nächsten Moment wird daraus ein Wirbel, der sie zurückzieht durch die Jahre, die sich wie Blätter von Herbstbäumen lösen und an ihr vorüberfliegen …

Aber bevor der Wirbel sie ergreift, öffnet sie die Augen und blinzelt in den Abend. Hinter Bambergers Bürofenster ist eine Bewegung, die sie nur erahnen kann hinter dem Anprall von Licht auf der Scheibe, während schräg gegenüber Mohrherr aus seiner Hofeinfahrt tritt, sich die Hosenträger stramm zieht und ihren Gruß entgegennimmt mit einem forschen Nicken.

«’s wead werra Somma«, ruft sie hinüber, im Windschatten eines vorbeifahrenden Wagens.

«’s wead oach Zeid. «Der grantelnde Tonfall Bergenstädter Herzlichkeit, der noch einmal Gnade vor Recht ergehen lässt. Mohrherr steht zufrieden auf dem Bürgersteig und hält Ausschau nach bekannten Gesichtern. Fährt mit beiden Daumen die Hosenträger rauf und runter. Steht da, denkt Anni Schuhmann, wie ein König, der gerade nicht weiß, wo sein Volk hin ist. Mit der Hand wischt er sich über seinen kahlen Schädel und beendet die Audienz.

Anni geht langsam zurück in den Laden und tauscht ihre Schürze mit dem alten, kaum noch lesbaren Schuhmann-Schriftzug gegen das, was sie ihren Fummel nennt: ein rotes kurzes Teil mit gelben Lettern, die vorgeschriebene Uniform für den Verkauf von Scharnwebers Massenware. Kopfschüttelnd schlüpft sie hinein und wackelt mit der Hüfte, so als probierte sie vor dem Spiegel ein ihrem Alter nicht ganz angemessenes Kleidungsstück. Ein Mal hat Scharnweber sie eigens wegen der Schürze angerufen, hat an den Pachtvertrag erinnert und über das einheitliche Erscheinungsbild seines Unternehmens und den damit verbundenen Wiedererkennungseffekt doziert, und seitdem erwartet sie den roten Lieferwagen mit den gelben Lettern in diesem rot-gelb-kurzen Fummel, morgens um sechs und abends um sechs, auf dass Scharnwebers Handlanger dem Brötchen-Paten berichten können, dass die Einheitlichkeit des Erscheinungsbildes auch in der widerspenstigen Schuhmann-Filiale gewahrt wird.

Heinrich hat den Pudding für die Plunderteilchen noch eigenhändig auf dem Herd angerührt — sie ärgert sich immer noch, nie den Schneid besessen zu haben, Scharnweber das ins Gesicht zu sagen.

Als sie wieder nach draußen blickt, kommt Lars Benner die Bachstraße herunter, die Computertasche mit dem Schriftzug des Boten schräg über Schulter und Oberkörper gehangen, so wie Kindergartenkinder ihre Frühstückstaschen tragen. Wie immer bleibt er vor dem Schaufenster der Videothek stehen und sieht auf die Uhr, als würde er jeden Tag neu überlegen: Erst Bäckerei oder erst Videothek, dann überquert er die Straße und verschwindet für ein paar Sekunden aus ihrem Blickfeld, aber anhand von Mohrherrs Kopfbewegung im Fenster gegenüber kann sie seinem Gang folgen, und als er durch die Ladentür tritt, hat sie die rote Papiertüte mit den gelben Lettern schon in der Hand und zwei Vollkornbrötchen und eine Nussecke hineingesteckt.

«Tach, Frau Schuhmann. «Das sagt er immer so, obwohl sie einander duzen.

«Tag, Lars. Wie immer, gell?«

«Wie immer. Und wenn’s noch Kaffee gibt …«

Sie stellt ihm die Tasse auf die Theke und muss lächeln über die Art, wie er seine Brille abnimmt und mit dem Bund des Pullovers putzt, die Augen zusammengekniffen, genauso wie er es schon als Kind getan hat. Noch immer dasselbe sommersprossige Jungengesicht, strohblonde Haare und dieses Gebaren eines Halbwüchsigen, als wollte ihm trotz seiner zweiunddreißig Jahre das Erwachsensein nicht gelingen. Etwa alle zwei Monate erzählt sie ihm die Geschichte, wie er einmal in Shorts und Kniestrümpfen in die Bäckerei gekommen ist und ›eine halbe Nussecke bitte, aber die größere Hälfte‹ verlangt hat.

«Was gibt’s Neues in Bergenstadt?«, fragt sie.

«Neues? Hier«? Er kugelt die Augen und bläst in seinen Kaffee.

«So kurz vor Grenzgang.«

«Grenzgang …«

«Ich seh dir doch an, dass es was Neues gibt. «Sie spricht Hochdeutsch mit ihm oder jedenfalls das, was in Bergenstadt als Hochdeutsch gilt — seit der letzten Sitzung des Geschichtsvereins weiß sie, dass der örtliche Zungenschlag genau genommen auf einem reduzierten Alphabet basiert, einer Abneigung gegen t, p und k etwa und einer Vorliebe für d, b und g. Und seit sie es weiß, hört sie es auch. Jemand von der Marburger Universität hat einen Vortrag gehalten über die Mundarten der Umgebung und dabei ein Wort benutzt, das Anni Schuhmann seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht: Binnenhochdeutsche Konsonantenschwächung. Es klingt, findet sie, wie eine Alterserscheinung, kommt aber auch bei jungen Leute vor, und davon abgesehen berührt es sie seltsam, dass die Art, wie man in Bergenstadt eben spricht, auf einer Schwächung beruhen soll. Von was denn?

Im Übrigen sieht sie Lars Benner nicht an, dass es was Neues gibt, sondern redet nur so mit ihm wie immer.

«Bergenstadt bleibt Bergenstadt, aber’s singt und lacht nur alle sie’m Jahre«, sagt der.

«Gell. Das ist ja das Einzigartige. «Und nicht etwa das Einsichaadige. Noch einmal wischt sie mit dem Lappen über die längst saubere Theke. Die letzte Stunde vor Ladenschluss geht langsam vorüber, so als würde die Zeit versinken in diesem honigfarbenen Abendlicht.

«Erst mal abwarten, wem sie die großen Ämter zuschanzen.«

«Haben denn noch nicht alle gewählt jetzt?«

Er lässt sich Zeit, rührt noch einmal in seinem Kaffee und schaut in seine Tasse wie Mohrherr drüben in den frühen Abend.

«Bei manchen fehlt noch der dritte oder vierte oder sonst wer im Vorstand. Wie immer: Alle woll’n den hier …«Mit der Rechten kippt er sich ein unsichtbares Bierglas in den Mund.»Aber die Arbeit will keiner machen.«

«Und du?«

«Schriftführer, wie letztes Mal. Un die Webseite mach ich angeblich mit jemandem zusammen. Mehr geht nich. Mein Tag hat auch nur füm’zwanzich Stunden. «Er klopft auf seine Computertasche und verzieht den Mund zu einem Schmollen, genau wie damals, als Heinrich ihn gefragt hat, ob er denn auch bereit sei, die größere Hälfte von einer Mark für seine Nussecke zu bezahlen.

Statt ihm wie früher mit der Hand durch die Haare zu fahren, nimmt sie die Messer aus dem wassergefüllten Einsatz in der Theke und legt sie hinter sich in die Spüle. Eine der Wespen klebt tot am hölzernen Griff des Brotmessers. Aus dem Stechen in ihrer Hüfte wird ein taubes Gefühl. Sie will Lars Benner gerade nach einem Artikel fragen, den sie am Morgen im Boten gelesen hat, da erklingt hinter ihrem Rücken die Glocke über der Ladentür, und als sie sich umdreht, steht ihr Neffe vor der Theke und lächelt ihr zu.