«Ach, schau an!«, ruft sie.»So eine Überraschung!«
Mit leisen Schritten ist er hereingekommen und sagt zur Begrüßung:
«Gut siehst du aus, Tantchen.«
Tatsächlich bringt sein Blick sie dazu, einen Moment lang verlegen an dieser lächerlichen Schürze zu zupfen, als sie um die Theke herumgeht und sich auf die Zehenspitzen stellen muss, um ihn auf die Wange zu küssen.
«Tach, Herr Weidmann«, sagt Lars Benner.
Und er riecht gut; riecht so, wie er ist: eher weltmännisch als bergenstädtisch.
«Geht’s dir gut, mein Lieber? Trinkst du einen Kaffee?«
Thomas dreht den Autoschlüssel in der Hand, wendet den Kopf kurz nach links, aber Lars Benner scheint er kaum zu bemerken. Trotz der Wärme draußen trägt er ein Sakko überm Hemd und nickt dieses stille Lächeln in ihre Richtung. In Bergenstadt gibt es Leute, die ihren Neffen für einen halten, der sich für was Besseres hält. Ihr gegenüber sagt es keiner, aber sie weiß es trotzdem und stellt mit einem protestierenden Kopfschütteln Tasse und Milchkännchen vor ihn auf die Theke. Verschlossen ist er. Sieht einem manchmal nicht in die Augen beim Sprechen, so als würde er kaum hinhören, hält nur den Kaffeelöffel in seinen schlanken, immer gut gepflegten Händen und … doch, denkt sie, verschlossen schon.
Sein Schweigen ist ihr ein wenig unheimlich, darum sagt sie, was sie sowieso gerade Lars Benner hat fragen wollen:
«Im Boode hon äich gelese … hab ich heute gelesen, dass sogar aus Australien welche kommen zum Grenzgang. Hat dein Vater geschrieben, Lars, den Artikel. Die Greimanns, da gab’s früher die Wäscherei am Marktplatz, und jetzt heißen sie … Gräymän oder so ähnlich und wohnen in Australien, also einer von ihnen, und der kommt mit der ganzen Familie rauf zum Grenzgang. Woher weiß dein Vater so was eigentlich?«
«Wird er recherchiert ha’m. Wer kommt von wo, also von weider weg, und hat wann in Bergenstadt gewohnd. Soll’ne Serie werden, immer montachs.«
«Von der Wäscherei stand nichts drin. Nur dass neunzehneinundsiebzig ein Greimann zweiter Führer beim Gartenberg war, aber der ist nicht nach Australien gegangen, ganz bestimmt nicht, der hat im Kirchenchor gesungen. Das muss sein Sohn gewesen sein. Und ist doch komisch, wenn man plötzlich anders heißt, oder? Ich meine, außer wenn man heiratet natürlich. Ja, noch Kaffee?«
«Du hattest mir noch gar nichts eingeschenkt«, sagt Thomas.
«Ich hatte dir … Junge, und du sitzt vor deiner leeren Tasse und sagst nichts. Entschuldige!«Hastig schenkt sie ihm ein und vergewissert sich noch einmal, dass die Brot- und Kuchenmesser alle sauber sind und an ihrem Platz liegen. Das wird immer schlimmer mit dem Vergessen und lässt sich immer schlechter verbergen — vor zwei Wochen ist das Licht im Laden an geblieben, bis abends um zehn Taxi-Mohrherr anrief und fragte, ob Scharnweber neuerdings Nachtbeleuchtung angeordnet habe. Sie nimmt das Wassergefäß aus seinem Einsatz und beginnt es unter der Spüle abzuwaschen. Von drei Kunden ist sie am nächsten Tag drauf angesprochen worden. Und wer weiß, wie viele es sonst noch bemerkt haben.
«Nächsde Woche geht’s mit de’n los, die nach Ami-Land gegangen sin«, sagt Lars Benner.»Sin auch ne ganse Menge.«
«Nach Amerika? Aus Bergenstadt?«Sie spricht über die Schulter, mit einem plötzlichen Gefühl von Müdigkeit, das ihr den Rücken hinaufkriecht und die Schultern steif macht und sie zwingt, die Hand mit dem Lappen am Rand der Spüle abzusetzen.
«Vor Ewichkeiten halt.«
Sie dreht sich herum und wartet darauf, dass der Schmerz zwischen den Schultern wieder verschwindet. Taubheit, Steifheit, Stechen — immer beginnt es in der Hüfte und breitet sich von da in alle Richtungen aus, je länger der Tag wird.
«Ja«, sagt sie zu ihrem Neffen.»Soll ich dir denn dann was mitgeben für morgen? Der Streuselkuchen hält sich doch.«
«Soll ich dir den Stuhl von hinten holen?«
«Nein, nein, nein. Und was ist mit Brot? Willst du Brot?«
«Danke, Tantchen, ich bin mit allem versorgt.«
Eben nicht, denkt sie, atmet hörbar ein und aus und hält ihm trotzdem einen halben Laib Mehrkornbrot hin. Von wem denn bitte schön versorgt?
Draußen sind die Schatten ein Stück nach oben gewandert, und Mohrherr hat sich aus seinem Fenster zurückgezogen. Nachbarn grüßen im Vorbeigehen. Früher hat sie um diese Zeit mit Heinrich zusammen in der Ladentür gestanden und mit Bekannten geredet, die die Bachstraße hinauf- oder hinuntergingen. In dieser halben Stunde vor Ladenschluss, wenn kaum noch Kundschaft kam und Heinrich den Rat seines Hausarztes ignorierte und eine Feierabendzigarette rauchte. Das Licht erinnert sie daran. In den Jahren seit seinem Tod hat sie nicht aufgehört, mit ihm zu sprechen, abends vor dem Einschlafen oder wenn keine Kunden im Laden sind. Liest ihm sogar aus der Zeitung vor. Berichtet ihm von den Wahlen und Vorbereitungen, von den Schmerzen in ihrer Hüfte und dass sie nicht weiß, ob sie im August alle drei Tage schaffen wird … Mit einem Ruck reißt sie sich aus ihren Gedanken. Bambergers Wagen steht nicht mehr in der Einfahrt. Stattdessen wird bald einer von Scharnwebers vielen Kastenwagen vorfahren, die Heinrich schon vor zehn Jahren Leichenwagen genannt hat, als ob er genau gewusst hätte, was kommen wird. Die Uhr an der Wand zeigt fünf vor sechs.
«So«, sagt sie in Lars Benners Richtung.»Dann schließ ich gleich mal ab hier. «Ein ganzes Blech voll Streuselkuchen, Bienenstich, Puddingplunder und Zupfkuchen steht auf der Ablage vor der Theke. Montags kaufen die Leute Brot, keinen Kuchen. Von dem ungefüllten Bienenstich schneidet sie zwei Stücke ab, steckt sie in eine Tüte und legt sie neben Thomas’ Kaffeetasse auf die Theke.
«Ich bin schließlich deine Tante«, sagt sie streng.
Er nickt durch seine randlose Brille, und in Annis Kopf formt sich die alte, hundert Mal gestellte Frage: Wie kann es nur sein, dass ein solcher Mann …? Einer, der so freundlich ist und studiert hat und einen gut bezahlten Beruf mit Ferien und Pensionsanspruch. Eigentlich gar nicht vorstellbar.
«Setz dich doch ein paar Minuten hin«, sagt Thomas.
«Du bist bestimmt viel zu beschäftigt, um einzukaufen«, murmelt sie. Damals Konstanze und seitdem — sie hält die Ohren offen, aber da sind nicht mal Gerüchte. Wie oft in den letzten Jahren hat sie die Gespräche mit ihren Kundinnen in die entsprechende Richtung gelenkt, aber herausgekommen ist dabei nichts. Niemand weiß was. Dabei hat er an der Schule Kolleginnen, und die können doch nicht schon alle vergeben sein. An Konstanze erinnert sie sich dunkel, die war einmal beim Grenzgang dabei, eine nette Frau, ein bisschen resolut, so wie Frauen aus der Stadt eben sind. Trauert man so einer ein ganzes Leben lang nach?
«Tante Anni?«Mit dem Stuhl in der Hand steht er neben ihr.
«Dos wär wegglich nedd …«Sie will ihn abwehren, aber seine Hand legt sich auf ihre Schulter, sanft und bestimmt — und bestimmt sieht er ihr an, woran sie denkt.
«Ich helf dir mit den Sachen, wenn der Wagen kommt.«
«Der kann jeden Moment da sein.«
Mit einem Nicken stellt er den Stuhl ab. Zu gern würde sie ihn fragen, wie das alles gekommen ist damals. Plötzlich war er zurück in Bergenstadt und hat angefangen am Gymnasium zu unterrichten. Niemand konnte das verstehen, auch Ingrid nicht. Anni, ’s ess mäijen Jongen, awwer äich ho oach kä Ahnunk, wos innem vergädd. Und seitdem keine Frau, jedenfalls wurde ihr keine vorgestellt. Sieben Jahre lang!
Vielleicht ist es ein Rätsel ohne Lösung, aber niemand soll ihr vorwerfen, nicht nach der Lösung gesucht zu haben. Tapfer hat sie alle Möglichkeiten erwogen, darunter auch solche, die zu erwägen ihr nicht leichtgefallen ist. Gebetet hat sie vor dem Schlafengehen, sie möge sich täuschen mit den heikleren unter ihren Gedanken.