Im blauen Alltagskittel steht Liese Werner in der offenen Tür, den Stock unter der Achsel und den Unterarm schräg abgewinkelt, mit einer Hand am Türrahmen. Die andere Hand hält den Becher. Letztes Jahr um diese Zeit hat sie noch bei Hans gewohnt und am fünfzehnten in Bergenstadt angerufen, aber an diesem Morgen deutet nichts auf ein Wissen um den Geburtstag ihrer Tochter, und Kerstin hat es beim Frühstück unterlassen, sie daran zu erinnern.
«Du hast noch Wasser im Becher, pass auf«, sagt sie, bedacht auf ihren Tonfall.
«Bitte?«
«Du tropfst. Da!«
Etwas Pinguinartiges liegt in der Kopfbewegung, mit der ihre Mutter an sich herabsieht.
«Trocknet schon wieder«, sagt Kerstin. Der kurze Moment aus Sonne und Stille verflüchtigt sich, und sie hascht nach ihm wie nach einem vom Wind fortgewehten Hut.»Ist das nicht herrlich, das Wetter? Der erste richtige Sommermorgen und … nein, lass es einfach von selbst trocknen. Mutter!«Sie macht einen Schritt nach vorne, während ihre Mutter sich bückt, um den nassen Fleck auf dem Boden zu beseitigen, der unterdessen größer wird, weil Kerstin den Arm mit einem Ruck ergreift, wie immer erschrocken über die Weichheit des Fleisches, das sie unter ihrem Griff und dem Stoff des Kittels fühlt.
«Lass einfach«, sagt sie noch einmal und spürt ihr eigenes Lächeln auf dem Gesicht wie ein Spannen zu trockener Haut.»Du könntest ein paar Schritte im Garten … oder auf der Terrasse, du könntest dich ein bisschen bewegen in der Sonne.«
«Der Doktor kommt heute Nachmittag, ja, und es ist noch nichts fertig.«
«Mutter, es ist Montag.«
«Hoffentlich verschreibt er mir was gegen mein schlimmes Bein. Und die Kopfschmerzen.«
«Doktor Petermann kommt mittwochs, jeden ersten Mittwoch im Monat, und er war erst vorletzte Woche da. Heute kommt er nicht.«
«Nicht?«
«Nein.«
«Wir könnten Hans fragen.«
«Ist es wieder schlimm mit dem Bein?«Wie ein Loch im Boden hat sie die Frage vor sich gesehen und einen Schritt zur Seite machen und sagen wollen: Dein Bein braucht Bewegung, das ist alles. Die Kopfschmerzen, über die ihre Mutter neuerdings klagt, scheinen einer Art Rotationssystem anzugehören, in dem sich die schmerzenden Körperpartien abwechseln: Knie, Hüfte, Schulter, Kopf, und wieder von vorne. Nur das Bein tut angeblich immer weh.
«Viel Schmerzen.«
«Vielleicht braucht dein Bein einfach …«
«Wir könnten Hans fragen.«
«Am Telefon kann er dir nichts verschreiben. Außerdem ist jetzt Doktor Petermann dein Arzt.«
«Der kommt ja nicht.«
«Er war hier. Hast du ihn nicht gebeten, dir was zu verschreiben?«
«Er hat meinen Blutdruck gemessen, ja.«
«Ob du ihn nicht gefragt hast …?«Kerstin blickt in die wässrige Trübnis hinter dicken Brillengläsern, auf diesen Schleier aus Unverständnis, und sie wünscht, Hans könnte das einmal sehen, statt immer nur am Telefon zu befinden, seine Mutter höre sich großartig an. Kerngesund. Hans, der ihr beim Umzug dieses Lachen der Zuversicht ins Gesicht geschmissen und zum Abschied gesagt hat, so sei es das Beste für alle.
«Nicht?«, wiederholt sie.
Ihre Mutter steht nickend vor ihr, als würde sie im Geiste die nächsten Schritte proben, das Lösen der Hand vom Türrahmen, die halbe Körperdrehung, das Ergreifen der Türklinke.
«Dann will ich mal mein Bett machen«, verkündet sie schließlich.»Falls der Pfarrer kommt, ja.«
Kerstin sieht ihr nach, wie sie in ihrem Zimmer verschwindet, hinter einer Tür, die gezeichnet ist von den weißlichen Rückständen der vielen Aufkleber, die Daniel dort platziert hatte, als es noch sein Zimmer war. Der Raum besitzt ein großes Fenster zum Garten und Zugang zum Balkon, mit Blick über das Bergenstädter Tal und zum Himmel darüber, den Daniel jeden Abend durch sein Teleskop betrachtet hat. Von den beiden Kammern im Keller sieht er nur die Einfahrt und Meinrichs Hecke und bekommt mit, wenn nachts der Schemen des Alten im Milchglasfenster des Badezimmers steht: gestikulierend, schimpfend, seine Prostata verfluchend, aber der Himmel ist nichts als ein kleines Stück Nordosten zwischen Dachrinne und Hecke. Daniel hat es ihr gezeigt und die Schultern gezuckt: Darf ich vorstellen: Mein Anteil vom Besten für alle.
›Das Beste für alle‹ ist ein geflügeltes Wort geworden am Rehsteig 52.
Sie geht ins Bad.
Draußen fahren Autos vorbei, Kerstin duscht und bindet sich die Haare zum Pferdeschwanz, kippt das Fenster und putzt sich die Zähne, während Dunstschleier zum Fenster hinausziehen. Ein Stütz-BH in Fleischfarbe hängt über der Stange vor dem Heizkörper.
Wie immer kommt es plötzlich. Einen Moment lang steht sie vor dem beschlagenen Spiegel, reißt die Augen auf und atmet tief durch, wie in der Küche beim Zwiebelschneiden. Da ist ein Pochen hinten im Hals, und das Geräusch ihres eigenen Atems kommt ihr vor, als stünde sie draußen auf einem weiten Feld. Trotz des offenen Fensters scheint der Dunst im Bad immer dichter zu werden. Den Blick auf ihre Füße gerichtet, zählt Kerstin die Sekunden. Wundert sich über die rätselhafte Präzision, mit der dieses Räderwerk der Erinnerung in ihr arbeitet und in zwei Umdrehungen den Sprung in ein anderes Bad schafft. Manchmal reicht ein fleischfarbener Stütz-BH aus, um alles ins Rollen zu bringen. Anita hat Recht, sie muss weg hier. Und langsam atmen. Warten. Sie schaut in den Spiegel, als ob sie ihren Sohn darin sähe, in jenem anderen Bad, an das sie sich nicht erinnern will und das jetzt sowieso anders aussieht. Man nimmt den Mann, wie er ist, aber das Bad räumt man um. Nur Daniel sieht sie, der nach einem schwarzen Teil greift, es am einen Ende baumeln lässt und die zwei Körbchen betrachtet, die sich wie eine Atemmaske auf Mund und Nase legen lassen. Ein jugendlicher Akt der Neugierde. Das Gefühl von Seide zwischen den Fingerspitzen. Langsam verzieht sich der Dunst vor ihrem Spiegel und sagt ihr, wie es ist: vierundvierzig Jahre und allein. Sie hat gelernt, ihre Tränen zurückzuhalten, aber Fragen gibt es, die müssen gestellt werden: Weiß ihr Sohn, wie die Frau riecht, die ihr Exmann v-ö-g-e-l-t? Und Tage gibt es, da glaubt sie den Verstand zu verlieren, wie im Handumdrehen, als hätte sie nie einen besessen.
* * *
Sie sitzen einander gegenüber in Granitznys Büro und sprechen mit langen Pausen, in denen sie sich mustern wie Gegner vor dem Kampf. Immer ist das so, selbst wenn sie übers Wetter reden, und dann spürt Weidmann sich mit durchgedrücktem Rücken im Besucherstuhl sitzen, die Unterarme auf die Lehnen gelegt, waagerecht wie sein Blick. Jedes Mal denkt er das Gleiche: Der Schulleiter sieht aus wie eine Mischung aus Buddhafigur und einem Operntenor im Spätherbst seiner Karriere. Nicht nur sein Körperumfang, auch die zu lange nicht geschnittenen und zu oft nicht gewaschenen Haare passen dazu, der speckige Kragen seines Jacketts und — wenn er es auszieht — die Schweißflecken unter den Armen; aber das Merkwürdige ist: Das Aussehen tut seiner Autorität keinen Abbruch, beinahe im Gegenteil. Granitzny ist respekteinflößend fett, man glaubt an ihm etwas von diesen Machtgürteln wahrzunehmen, die sich kiloweise um gewisse Politiker legen im Lauf der Jahre. Manche Männer sind dick, so wie Bäume Rinde haben, und Granitzny ist zwar kein Politiker, aber eine Witzfigur schon gar nicht. Selbstsicherheit und Unerschütterlichkeit strahlt er aus, wenn er sich wie jetzt im Schreibtischstuhl zurücklehnt, bis die Knopfleiste seines blauen Hemdes in Hochspannung gerät und die Krawatte auf seinem Bauch liegt wie eine schlafende Katze. Äußerlichkeiten sind dem Rektor des Städtischen Gymnasiums Bergenstadt nicht nur egal, er nimmt sie erst gar nicht zur Kenntnis. Weidmann weiß nicht warum, aber Granitzny erinnert ihn an Schlegelberger. Erinnert ihn an den Alten mit einer Beharrlichkeit, wie es nur bei Ähnlichkeiten der Fall ist, die nicht sofort ins Auge springen.