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Auf dem Esstisch stehen die Veilchen und haben viel von ihrem Zauber eingebüßt. Anitas Anruf steht noch aus, ansonsten ist ihr Geburtstag vorbei.

Er war dabei, hat Jürgen gesagt. Da wurden jüngere Mitschüler geschubst und unter Druck gesetzt, und auch ein paar Euro haben den Besitzer gewechselt. Ist das Erpressung? Für Jürgen eindeutig ja, aber der hat es nun mal gerne, wenn die Dinge sich juristisch präzise benennen lassen. Ihr dagegen fällt kein Wort ein für das Geschehen, also hat sie die Beete bearbeitet mit einem wahren Furor und nur manchmal innegehalten, um sich zu fragen, wie sehr die Nachricht von Andreas Schwangerschaft sie verletzt. Die Nachricht als solche wohlgemerkt, nicht etwa die Aussicht auf finanzielle Konsequenzen. Nicht allzu sehr, lautet die offizielle Antwort. Zum Glück gibt es Dinge, über die sie sich mehr Sorgen machen muss. Aber jetzt am Abend, während andernorts vielleicht Namen erwogen und lachend wieder verworfen werden, kommt die Diele, kommt das ganze Haus ihr schäbig vor. Leer und dämmrig.

Kerstin entfernt die Metallfolie vom Korken der Sektflasche. Unterdrückt ein Lachen, als ihr einfällt, dass Anita nie Prost oder Zum Wohl sagt, sondern immer: Alkohol ist keine Lösung. Die Folie wirft sie einfach in die Spüle. Ihre Finger sind müde vom Fassen der Hacke, ihr Rücken vom Bücken, ihre Schultern vom Zerren an dem hölzernen Griff. Die Kühle des Glases tut gut in den Handflächen, aber das ist das Einzige, was in diesem Moment guttut, und Selbstmitleid ist auch keine Lösung.

Plopp.

Herzlichen Glückwunsch, denkt sie und nimmt den ersten Schluck aus der Flasche, bevor sie im Schrank nach zwei Gläsern sucht. Trinkt sie sich hier Mut an für eine Unterredung mit Daniel, dem Schrecklichen? Einen Moment lang steht sie in der Küche und stellt sich vor, die offene Flasche durchs geschlossene Fenster zu schleudern, aus ihrer Küche raus und ins Meinrich’sche Badezimmer rein. Dazu den Blickkontakt mit Frau Meinrich durch zwei geborstene Fenster. Ihr Kopfschütteln: Erst lässt die Frau Nachbarin ihre Hecke wuchern, und jetzt wirft sie mit Söhnlein Brillant. Hermann, kommst du mal?

Noch einmal setzt sie die Flasche an.

Es ist schwierig, die eigene Wut zu domestizieren, wenn sie so hin und her schwankt zwischen Hass und diesem anderen Gefühl. Er hat sich kaum verändert (denkt sie jedes Mal, wenn sie ihn sieht). Äußerlich nicht und auch sonst: Strahlt immer noch dieses Selbstbewusstsein aus, das sie einen winzigen Moment lang für ihn einnimmt, gegen ihren Willen und obwohl sie weiß, dass es sich eigentlich nur um eine Leihgabe der Umgebung handelt. Einmal hat sie zu ihm gesagt: Du passt hierher, als hätte man den Ort für dich erfunden, aber in Wirklichkeit gilt das Umgekehrte. Der Ort hat ihn erfunden und zu dem gemacht, der er ist. Bloß kann sie schlecht behaupten, das nie attraktiv gefunden zu haben: seine Einfachheit und Durchschaubarkeit. Sogar diesen Anflug von Selbstverliebtheit hat sie gemocht, solange er ein Beitrag zu Ausgeglichenheit und ehelicher Harmonie war. Er verfügt über diese ebenso beneidenswerte wie verabscheuungswürdige Begabung, stets mit sich im Reinen zu sein, notfalls ganz grundlos. Ein Mann, ein Wort, breite Schultern, ein Schwanz. Jemand, der hält, was er verspricht, und keinen Deut mehr.

Mit anderen Worten: Ein Arschloch, sagt sie sich jetzt. Zeugt mit einer anderen Frau ein Kind, einer jüngeren und mit Verlaub dümmeren, und in genauer Abstimmung auf die flankierenden Maßnahmen des Gesetzgebers. In denen ist bestimmt von ›Zumutbarkeitsgrenzen‹ die Rede. Oder von zu schließenden ›Gerechtigkeitslücken‹. Das klingt zwar bürokratisch, stimmt aber haargenau: Knapp diesseits dieser Grenzen und in einer ebensolchen Lücke hat sie in den letzten Jahren ihr Leben gefristet. Bloß ist sie nicht davon ausgegangen, es könnte sich um eine Gerechtigkeitslücke zu ihren Gunsten handeln, denn so hat es sich nicht angefühlt. Aushaltbar war es, mehr nicht. Es gab Zufriedenheitslücken, und sie ist auch schon mal an die eine oder andere Verzweiflungsgrenze gestoßen, aber im Großen und Ganzen war es auszuhalten. Und jetzt ist es damit bald vorbei. Kabinettsbeschluss.

Der Sekt von Frau Preiss ist kühl und etwas zu süß und insofern seiner Käuferin nicht unähnlich. Kerstin sieht auf die Uhr: Will sie nicht Gefahr laufen, von Anitas Geburtstagsanruf unterbrochen zu werden, muss sie jetzt sofort mit Daniel sprechen. Die Sektgläser lässt sie auf dem Tisch stehen, nimmt stattdessen zwei alte Senfgläser aus dem Küchenschrank und geht die Treppe runter. Bleibt noch einmal stehen, um vergebens zu horchen in diesem engen Kellerflur, der nur von einem Lichtstreifen unter Daniels Tür erleuchtet wird und von dem fahlen Schimmer, der ihr aus der Diele gefolgt ist. Keine Musik auch sonst kein Geräusch.

Sie klopft vorsichtig mit dem Flaschenhals.

Nichts.

«Wenn du nicht Heraus sagst, komm ich mit erhobenen Händen rein. «Ein Witz von früher, der früher einmal witzig war.

Schweigen.

Sie drückt die Klinke mit dem Ellbogen, betritt den Raum mit dem Rücken zuerst und spürt seinen Blick schon, bevor sie sich umgedreht hat: Auf dem Bett liegt er, die Arme unter dem Kopf, die Schuhe an den Füßen. Ein Gefangener in seiner Zelle. Buffalo steht auf seinem T-Shirt. Kurz streift ihr Blick sein Gesicht und irrt dann durch den nackten Raum. Er hat sich nie eingerichtet in diesem Zimmer, in dem er mit ausgestreckten Armen beinahe die Seitenwände berühren kann, hat keine Poster aufgehängt und die Bücher nicht aus den Kisten geräumt, nur sein Teleskop steht unter dem Fenster und setzt Staub an. Es kostet sie Überwindung, die Tür hinter sich zu schließen und die zwei Schritte bis zum Schreibtisch zu gehen, Flasche und Gläser abzustellen neben einem Stapel T-Shirts, den sie am Morgen reingebracht hat. Dieses Zimmer sagt: Mir geht’s nicht gut. Nur das. Es sagt nicht: Hilf mir.

«Ich geb einen aus«, sagt sie.

«Herzlichen Glückwunsch. «Er ist ihr nicht gefolgt mit dem Blick, hält lediglich den Arm nach oben wie einen Kerzenständer, und sie drückt ihm das Glas in die Hand.

«Zählt nicht.«

«Zählt nicht was?«

«Gratulieren ohne angucken.«

«Prost. «Er hebt den Kopf, gerade so weit, dass er sich das Glas an die Unterlippe setzen kann, schlürft und stellt es sich auf die Brust.

Alkohol ist keine Lösung, will sie sagen, aber ihre Lippen zittern plötzlich.

Möbel von früher, furniertes Irgendwas, grünlich und abgeplatzt an den Kanten. Sie sagt nichts. Sie will es ihm nicht leicht machen und nicht schwer, will nur, dass er von sich aus den Mund aufmacht, und weiß gleichzeitig, dass sie ihm nicht gewachsen ist, wenn es ums Schweigen geht. Schon lange nicht mehr. Auf dem Schreibtischstuhl nimmt sie Platz, Lehne nach vorne, sieht ihren eigenen Schatten an der Tür und versucht Daniels Blick zu folgen. Da ist ein feuchter Fleck in der Zimmerecke. Hinter ihr drückt die Nacht gegen das Fenster, die Schwärze zwischen Kastanie und Garagentor.

«Wir könnten einen CD-Spieler kaufen«, sagt sie.»Einen tragbaren — zum Abwechseln.«

«Hab keine CDs.«

«Kaufen wir eben auch CDs. Oder brennen welche.«

Er nickt. Klackt die Spitzen seiner Turnschuhe zusammen.

«Das ist strafbar neuerdings. Raubkopierer kommen zum Vergewaltigen ins Gefängnis. «Reglos liegt er auf dem Bett, beinahe zu groß für die Matratze und zu groß für sich selbst.

«Deine Witze waren auch schon mal besser.«

«Ja — wann?«

Die Luft ist stickig vom stundenlangen einsamen Brüten. Eine Sekunde lang kann sie Jürgen verstehen, der ihm einfach eine geknallt hat, und in der nächsten Sekunde fragt sie sich, ob ihr Sohn vielleicht eine sadistische Art von Vergnügen empfindet hinter dieser unbewegten Maske, an deren steinerner Härte sich seine Mutter eine blutige Nase holt. Und ob er mit dieser Maske Tommy Endler gegenübergetreten ist.