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Du kannst ihn nicht mehr vor allem beschützen. Oder so ähnlich.

Dabei gelingt es ihr nicht einmal, sich vor ihm zu schützen. Der Sekt wird warm in ihrer Hand, und sie spürt einen Anflug von Sodbrennen in der Kehle. Obwohl Daniel eine Woche bei ihr und eine Woche bei Jürgen wohnt, hat sie immer in dem Glauben gelebt, dass sie beide ein Team sind, dessen Teamgeist auf der gemeinsamen Gegnerschaft zur Hainköppel-Fraktion beruht. Aber dieses Zimmer — und das hätte ihr schon früher auffallen müssen — spricht nicht dafür, dass er den Rehsteig als sein Zuhause betrachtet, und wenn er das nicht tut, warum sollte er dann Teil eines Mutter-Sohn-Teams sein wollen? Purem Wunschdenken hat sie sich hingegeben all die Jahre, und nicht zum ersten Mal wundert sie sich über die Sicherheit, mit der sie sich in dieser bloß erträumten Welt bewegt. Der Kerl da auf dem Bett ist Solist durch und durch.

Sie würde gerne wissen, ob er von Andreas Schwangerschaft weiß, würde sich auch gerne einen zynischen Kommentar dazu aus seinem Mund anhören, aber nachfragen will sie nicht — aus einem vollkommen unangemessenen Gefühl von Anstand heraus.

«Soll ich wieder gehen?«

Er zuckt die Schultern.

Sie leert ihr Glas und steht auf. Fühlt sich so unbehaglich, als wären von irgendwo zehntausend Blicke auf sie gerichtet und fragten: Was stehst du da?

«Irgendwann wirst du’s erklären müssen«, sagt sie.»Glaubst du, dass du das kannst?«

«Man kann alles erklären.«

«Ob du es kannst, war meine Frage. «Sie steht vor dem Bett und kann ihm jetzt ansehen, dass er sie absichtlich nicht ansieht. Sie folglich doch sieht, bloß nicht mit den Augen. Schönen Augen, als Kind schon und jetzt immer noch.

«Starr mich nicht so an«, sagt er.

«Was war in der Schule?«

«Ärger war in der Schule. Scheiße war in der Schule.«

«Nämlich, was für Scheiße?«Mit der Flasche in der Hand steht sie vor ihm, wie eine Trinkerin. Und er dreht sich auf die Seite, wendet ihr den Rücken zu.

«Dein Exmacker hat’s dir doch längst erzählt. Was willst du noch wissen?«

Sie hat das schon oft erlebt und nie verstanden: Diesen Drang, allen Worten eine scharfe Kante zu geben, aus jedem Satz eine Waffe zu machen, mit allem zu verletzen, sich selbst, sie, alle. Ist das nur die Pubertät oder das Resultat einer gescheiterten Ehe, eines Daseins als Verschiebemasse? Komische Vorstellung, hat er einmal zu ihr gesagt, dass es einen Vertrag gibt, in dem steht, wann ich wo lebe. Ist gar nicht lange her. Wieso komisch, hat sie zurückgefragt, wissend, dass es allzu offensichtlich ist und jede Frage sich erübrigt, und vielleicht hat sie ihm nur die Gelegenheit geben wollen, den nächsten Satz so präzise in ihrem Herzen zu platzieren, wie nur die eigenen Kinder es können: Weil ich den Vertrag nie unterschrieben habe. Das ist ein Unterschied zwischen ihm und seinem Vater: Der zielt manchmal daneben, wenn er sie treffen will, dessen Sätze haben nicht diese giftige Spitze, der ist selbst in seiner Wut noch bergenstädtisch behäbig. Daniel nicht: Schade, dass ich ausgerechnet ein Individuum bin, sonst hättet ihr mich einfach teilen können.

«Ich will es von dir hören.«

«Ich glaub nicht, dass du’s hören willst, und das trifft sich gut — ich will’s nämlich auch nicht erzählen.«

Sie spürt genau, wie das Gespräch auf eine Eskalation zutreibt, weil er ebenso dicht am Rand seiner Fassung balanciert wie sie selbst, weil sein Tag keinen Deut besser gewesen ist als ihrer. Und jetzt begegnen sie sich auf diesem schmalen Grat, sie steht ihm im Weg und er ihr, jeder Satz ist ein kleiner Schubser, und so sehr sie hofft, das Telefon werde klingeln und allem ein Ende machen, so sehr ist sie entschlossen, nicht als Erste nachzugeben. Vielleicht wegen des Alkohols, vielleicht weil noch vom Mittag genügend Zorn in ihr schwelt, vielleicht weil dies ihr beschissener vierundvierzigster Geburtstag ist.

«Ich will es hören. Von dir. Jetzt.«

Langsam dreht er sich um, und sie kann sich nicht erinnern, jemals so viel Sarkasmus in seinem Gesicht gesehen zu haben.

«Knall mir doch eine, wenn dir danach ist.«

Noch erschrockener als über seine Worte ist sie über ihren Wunsch, genau das zu tun: ihm dieses freche Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen. Sie hält sich an der Flasche fest. Sein Blick flackert, er liegt auf dem Bett wie angeschossen, im Rücken verdreht, halb triumphierend und halb wie tot.

«Dann eben nicht. «Fest ihre Stimme, ohne Melodie. Ein sprödes Stück Holz von einer Stimme. Sie nimmt das Glas vom Schreibtisch, und diesmal folgt ihr sein Blick vom Bett aus. Ein Baby-Blick, ein Verbrecher-Blick, als wolle er sagen: Lies es mir von den Augen ab, aber sie will nicht mehr. Langsam geht sie zur Tür; nicht so, als wartete sie auf ein Wort von ihm, nur einfach langsam. Dreht sich nicht um, weder drinnen noch draußen, noch auf der Treppe, sondern geht in die Küche und kippt den Sekt in die Spüle.

Die leere Flasche stellt sie neben den Mülleimer und erklärt ihren Geburtstag für beendet. Nimmt sich ein Stück Käse aus dem Kühlschrank, um den pelzigen Geschmack auf ihrer Zunge zu bekämpfen. Dann steht sie mit verschränkten Armen gegen die Anrichte gelehnt, mit einem so durchdringenden Gefühl der Leere, dass es beinahe angenehm ist.

Neun Uhr. Zeit totschlagen ist so ein Ausdruck, den sie nie recht verstanden hat — eher ist es doch ein langsames Strangulieren, und die eigentliche Henkerskunst besteht auch nicht darin, Minuten oder Stunden rumzubringen, sondern Jahre. Nur um sich hinterher zu fragen, wo sie geblieben sind. Aber in diesem Fall stellt sich die Frage nicht, Daniels Blick war unmissverständlich. Sechzehn Jahre lang hat ihre Hauptbeschäftigung darin bestanden, ihren Sohn zu lieben, und das Ergebnis ist ziemlich ernüchternd.

Selten ist sie dem Telefon so dankbar gewesen für sein Klingeln. Mit Anita kann sie bestimmte Fragen zwar nicht besprechen, sie aber immerhin für eine Weile vergessen, während sie sich anhört, was ihr Freundin über Liebhaber, Schmuck und teure Reisen zu berichten hat.

«Werner. «Sie sagt es ein bisschen so wie in ihrem gemeinsamen Schätzchen-Ton von früher.

«Guten Abend«, antwortet eine Männerstimme.»Weidmann. Ich bin der Klassenlehrer Ihres Sohnes.«

«Ja. Ich meine: Guten Abend.«

«Tut mir leid, dass ich so spät anrufe.«

«Kein Problem. Ich bin …«verwirrt, geschockt, nicht ganz bei Sinnen und außerdem vierundvierzig. Sie hat keine Ahnung, wie sie den Satz beenden soll, und lässt ihn einfach in der Luft hängen. Zieht einen der Stühle vom Esstisch zu sich heran und nimmt Platz.

Warum muss sie jetzt ausgerechnet auch noch mit Weidmann sprechen?

«Ja. Ich nehme an, Sie wissen, weshalb ich anrufe.«

«Ich weiß Bescheid«, sagt sie.»Im Groben jedenfalls.«

«Im Groben. Mehr weiß zurzeit niemand von uns. Darf ich fragen, wie es Daniel geht?«

«Er schweigt.«

«Das tut er oft, nicht wahr?«

«Ja. «Sie weiß nicht, wie weit über Höflichkeit und Verpflichtung hinaus ihre Bereitschaft reicht, mit Weidmann über ihren Sohn zu sprechen. Vor zwei Wochen beim Maibaumaufstellen hat sie eine Weile mit ihm geredet und dabei den Eindruck nicht loswerden können, dass er etwas herausfinden wollte, aber was genau, blieb ihr unklar. Wahrscheinlich waren ihm die Vorfälle an der Schule damals schon bekannt, und so kommen ihr im Nachhinein seine Lobreden auf Daniels schulische Leistungen eher zweifelhaft vor. Nicht gelogen, aber auch nicht ganz aufrichtig.