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«Daniel, hör zu.«

«Bist du sicher, dass du an meiner Stelle genauso denken würdest. Und falls ja: Wie denke ich denn?«

«Wieso praktizieren wir beide nicht für den Rest des Abends das Prinzip getrennte Stockwerke?«

Er kommt langsam aus der Küche, mit derselben ungerührten Miene.

«Weil’s dir im Keller zu dunkel ist?«Dann schlurft er weiter, eine Scheibe Brot und ein Stück Wurst in der Hand und bleibt nur noch einmal stehen, das Gesicht hinter Gittern.»Aber vor Weidmann nimm dich in Acht. Der hat’s, wie man weiß, auf einsame Frauen abgesehen. Sind die Veilchen da von ihm?«Er verschwindet, bevor sie antworten kann, und ihr fällt sowieso nichts sein. Seine Zimmertür schließt sich, in der Essdiele tickt die Uhr. Niemals hätte sie den Sekt einfach so wegschütten dürfen. Sie presst die Lippen aufeinander und sperrt die Augen weit auf und glaubt sich zu erinnern, dass das am Morgen schon einmal geholfen hat. Mit einer Hand greift sie hinter sich und löscht das Licht. Dann knipst sie es wieder an. Melodramatisch will sie auch nicht sein. Sie muss da jetzt durch, und sie fragt sich, ob ihr Sohn gefühlskalt ist oder Weidmann Recht hat in seinem Verständniseifer. Sie selbst versteht nämlich gar nichts.

Zum Beispiel auch nicht, warum Weidmann plötzlich mit ihr spazieren gehen will.

Ihre Tränen, da sie nicht von zuckenden Schultern oder Schluchzen begleitet werden, lässt sie nicht als echtes Weinen gelten. Die gehören eher in die Kategorie Erschöpfung. Auf der Suche nach einem Geräusch nimmt sie den Telefonhörer ab und legt ihn wieder zurück auf die Gabel.

Jetzt zum Beispiel. Jetzt wäre es die Aufgabe eines Mannes, im Wohnzimmer zu sitzen und von der Zeitung aufzublicken, wenn sie hereinkommt, zu nicken und mit einer Hand über ihren Nacken zu fahren, während sie erzählt. Er könnte ruhig ›Alles halb so wild‹ sagen oder ›Das wird schon wieder‹, sie verlangt keine übermännlichen Fähigkeiten. Himmel, er dürfte sogar die Augen verdrehen und sich anmerken lassen, dass er lieber über den nächsten Sommerurlaub sprechen würde. Nur da zu sein hätte er, physisch, männlich, beidhändig; einer, dem man irgendwann ohne Hintergedanken vorschlagen kann, ins Bett zu gehen.

Weiter geht sie selbst in Gedanken nur selten. Da ist eine Grenze, die sie lieber unbewusst überschreitet, im Traum manchmal oder morgens im Halbschlaf; dann krallt sie sich ins Kopfkissen, wälzt sich umher und kommt mehr zufällig auf ihrer eigenen Hand zu liegen. Dann duschen, lange und heiß, bis Fenster und Spiegel aussehen wie mit Papier beschichtet und ihre Haut eine Wärme absondert, die fast …

Let’s call it a day, hat Anita früher gesagt, wenn sie bis zum Morgengrauen zusammen in der Küche hockten und schließlich kaum noch aus den Augen gucken konnten vor Müdigkeit. Jetzt flüstert sie den Satz leise vor sich hin und spürt, wie müde sie ist, hundemüde. Ausnahmsweise erlaubt sie sich, auf das Zähneputzen zu verzichten. Sonst gibt es schließlich niemanden, der Nachsicht mit ihr hat.

* * *

«Mama, ich seh gar nichts. Ich sehe überhaupt nichts!«

«Daniel, ich hab’s dir schon mal gesagt: Frag Onkel Hans, ob er dich auf die Schultern nimmt.«

«Komm zu mir, junger Mann, ich nehm dich hoch.«

«Nein!«

So ging das schon den ganzen Morgen. Kerstin tauschte einen Blick mit ihrem Bruder, während Daniel sich an ihre Hüfte klammerte, den Kopf in ihre Seite drückte und ihn gleich darauf wieder nach vorne drehte, um in das Meer aus Rücken, Nacken und Hinterköpfen zu starren, das sich vor ihnen auf dem Marktplatz ausbreitete. Ganz Bergenstadt war an diesem ersten Grenzgangsmorgen auf den Beinen, reckte die Hälse und verfolgte den Einmarsch der Männergesellschaften und Burschenschaften.

«Was haben sie dem gestern bloß gegeben.«

«Lass gut sein Hans, er ist müde.«

«Ich bin nicht mü-de!«

«Dann hör auf zu jammern und komm auf meine …«

«Hans. «Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihre Schläfen taten weh. Ein pulsierender, tickender Schmerz hatte sich dort festgesetzt, den jedes Geräusch ausschlagen ließ, so wie diese flimmernden Anzeigen an Stereo-Anlagen und Radios. Vom Kaltenbach herab ertönte Blasmusik, und über die Köpfe der Menge hinweg sah sie die Rehsteigfahne sich dem Marktplatz nähern, schwebend und schaukelnd wie eine Marionette über dem Rand einer Puppenbühne. Immer wieder kam der Vormarsch zum Stillstand, die Kommandos der Reiter mischten sich unter die Musik, bis sich in tausend kleinen Schritten eine Gasse bildete und die Männer weiter vorankamen.

Kerstin drehte sich um zu ihrem Bruder:

«Ich geh mit ihm ein Stück näher ran, da hinten, wo weniger Leute sind. Wir kommen wieder hierher zurück. «Sie nahm Daniel bei den Schultern und dirigierte ihn durch die dicht stehenden Menschenreihen. In sich spürte sie, wie einer nach dem anderen die dünnen Fäden rissen, an denen ihre Selbstbeherrschung hing. Zum Teufel mit Grenzgang, Blasmusik und diesen Gäulen, zum Teufel mit dem ganzen verdammten Bergenstadt!

«Au-a!«Daniels Gesicht war gegen einen Rucksack geprallt.

«Da vorne wird’s besser.«

«Ich verpasse alles, Scheiße, ich hab überhaupt nichts mitbekommen.«

«Da vorne siehst du den Rehsteig einmarschieren. Direkt vor uns.«

«Jetzt kommt der Mohr«, rief jemand, und sie verstärkte ihren Griff und schob Daniel auf den Platz vor dem Rewe-Markt zu, wo die Menschenmenge lichter wurde. Wie ein breiter Strom zogen die Hüte und winkenden Hände der Rehsteig-Männer den Marktplatz hinab, zügiger jetzt, die Fahne hatte schon beinahe den Brunnen erreicht. Von dort, wo sie Daniel hinsteuerte, würden wieder nur Rücken zu sehen sein, aber sie ging weiter. Zu viele Blicke auf ihrem Gesicht. Zu viel von allem.

Sie hatten kaum ein wenig Freiraum um sich, als unten bei der Bushaltestelle das Peitschenknallen der Wettläufer ertönte. Kleine Echos explodierten zwischen den Fassaden der Fachwerkhäuser. Daniel zitterte förmlich vor Wut und Enttäuschung.

«Wir gehen falsch, Mama. Wir müssen da runter, ich will endlich was sehen!«Seit dem gestrigen Abend hatte seine Stimme diesen Klang, als könnte sie Glas schneiden. Ein schrilles Organ des Protests. Er reagierte so empfindlich, als wäre seine Haut eine einzige offene Wunde, und Kerstin sah ihn an mit der Hilflosigkeit einer jungen Mutter angesichts ihres pausenlos schreienden Babys.

Da war kein Zelt! Da war überhaupt kein Zelt! Den ganzen Heimweg über hatte er das wiederholt, immer lauter werdend, so als wüte er gegen eine gemeine Unterstellung an, besinnungslos und blind. Er stieß die Worte einzeln hervor: Da — war — kein — Zelt! Spuckte sie den beiden Erwachsenen ins Gesicht, die ihn schließlich jeder an einer Hand nach Hause zerren mussten, während er sich mit gestreckten Beinen gegen den Boden stemmte. Und sie hatte kein gutes Gefühl gehabt, den ganzen Abend nicht. Da war es mit den Kopfschmerzen losgegangen.

Vor ihnen schloss sich die Gasse wieder. Sie standen abseits des großen Treibens, weiter weg von allem als zuvor, im Rücken des Geschehens. Kerstin vermied es, ihrem Sohn ins Gesicht zu sehen.

«Wir trinken einen Schluck, und dann gehen wir an der anderen Seite weiter, vor den Häusern.«

«Ich hab keinen Durst.«

«Aber ich. «Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern und kramte zwischen Taschentüchern, Äpfeln und einer Bonbontüte nach der Aspirinpackung. Um sie herum standen ein paar Alte und Mütter mit Kinderwagen. Jemand versuchte vergebens, seinen Hund zu beruhigen. Weiter hinten, aus einem Fenster über dem Rewe-Markt blickte eine Frau mit Kopftuch, als schaute sie Kindern bei einem absonderlichen Spiel zu. Ohne die Packung hervorzuziehen, drückte sie sich zwei Aspirin in die hohle Hand, nahm die Wasserflasche aus dem Rucksack, schluckte die Pillen und trank. Wolken ballten sich über dem Marktplatz. In der Nacht war Regen gefallen — sie hatte es gehört, sie hatte nicht geschlafen —, und jetzt zog grauer Rauch über das Tal, schnell und schwer und voller Unheil. Wie sie diese drei Tage hinter sich bringen sollte, ohne zu schreien, war ihr nicht klar.