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«Gleich, Tommy-Schatz, gleich siehst du deinen Papa mit der Fahne.«

Daniel klammerte sich an einen Laternenpfahl wie an den Mast eines Segelschiffes.

«Willst du was trinken, Daniel?«Sie bekam keine Antwort und hatte auch nur gefragt, um neben Evi Endlers allzeit Liebe und Besorgnis verströmender Mütterlichkeit nicht herzlos zu wirken.

«Da kommen sie!«Mit einem Hüpfer registrierte Evi die Ankunft der beiden Reiter an der Einmündung des Gartenbergs. Tommy begann sofort zu winken. Eine Tuba tauchte auf, eine Reihe Querflöten (immer spielen Frauen die kleinsten Instrumente, dachte Kerstin), zwei Hörner. Dann kamen Becken, Trommeln, die Pauke, und dann sprang Evi Endler noch mal in die Luft und begann ekstatisch zu winken. Einen Kopf größer als alle anderen sah Herr Endler seine Frau und seinen Sohn sofort und winkte zurück. Hielt die Fahne mit einer Hand wie ein Surfer sein Segel. Kerstin hob ebenfalls die Hand und dachte: Alaaf!

Vor sieben Jahren war Jürgen Fahnenträger gewesen, und sie hatte mit ihrem zweijährigen Sohn auf dem Arm auf dem Marktplatz gestanden und gewinkt. Glücklich, vielleicht sogar stolz, sie wusste es nicht mehr. Jedenfalls hatte sie Jürgen gerne zugesehen, beim Aufmarsch ebenso wie später auf dem Frühstücksplatz, als er die Fahne schwenkte, während das Stemmkommando einen Gast nach dem anderen hochleben ließ und der Führer auf seinem Bierfass sich heiser brüllte: Der Bürger Sowieso, er lebe hoch! hoch! hoch! Jetzt zogen die Gartenberger direkt vor ihnen auf den Marktplatz, Evi Endler warf ihrem Mann verliebte Blicke hinterher, und Kerstin registrierte, dass ihr Kopfschmerz sich verflüchtigt hatte. Ansonsten war alles gleich geblieben.

«Als Nächstes kommt ihr.«

«Bitte?«

«Die Rheinstraße. «Evi Endler hievte Tommy auf ihren anderen Arm.»Rheinstraße ist als Nächstes dran.«

«Hast du gehört, Daniel?«

«Ich seh viel besser als ihr«, sagte der, ohne sich umzudrehen.

Allmählich wurde sie ruhiger. Hörte mit einem Ohr zu, wie der Führer der Gartenberger seine Meldung machte und gleich darauf die Melodie von vorher erneut erklang. Sie konnte nicht drei Tage lang ihre Wut mit sich herumschleppen wie einen Rucksack voller Wackersteine. Sobald der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, brauchte sie ein anregendes Getränk. Ein Getränk und dann mitschwimmen im großen Strom, in dem sie irgendwann ihrem Mann begegnen würde, und dann sollte der sich was einfallen lassen, wie sie die nächsten Tage miteinander umgingen, ohne aufzufallen.

«Tommy-Schatz, wir zwei gehen besser noch mal in den Imbiss Pipi machen. «Evi legte ihr die Hand auf die Schulter.»Wir sehen uns später.«

«Bis später. «Kerstin stellte sich hinter ihren Sohn und beobachtete unter seinen Armen hindurch den Einmarsch der Rheinstraße. Granitznys Obelix-Figur in der Mitte, die Reiter rechts und links, dahinter ihr Mann. Die Aufstellung hatte etwas Militärisches, und gleichzeitig sahen die Männer in Wanderkleidung, im Alter zwischen dreißig und siebzig, wenig zum Fürchten aus. Auch nicht über die Maßen würdevoll, sondern fröhlich, dörflich, und selbst die, die man hier unbedingt ›Führer‹ nennen musste, erinnerten mit ihren häufig kugelförmigen Bäuchen kaum an entschlossene Generäle. Die Säbel waren gerade scharfkantig genug, eine Melone zu zerteilen, hatte Jürgen ihr versichert. Solange er noch zu weit entfernt war, sie in der Menge zu erkennen, richtete sie den Blick auf ihren Mann. Fragte sich, so abrupt, als wollte sie sich selbst überrumpeln und zu einer ehrlichen Antwort zwingen, ob sie ihn liebte. Aber was genau hieß Liebe nach zehn Jahren Ehe? Welches Gefühl war damit gemeint?

«Hör auf, mich in den Hintern zu zwicken«, sagte Daniel schroff.

«Entschuldige. «Sie hatte nicht auf das Tun ihrer Hände geachtet.

Sie schlief gerne mit ihm in einem Bett, mochte den Geruch seiner Haut, die Muskeln darunter, die Art, wie er sie auf dem Sofa in den Arm nahm, sie an sich drückte, wenn er kam.

Liebe?

Die Rheinstraßenmänner passierten das Komitee auf seinem Podest, Kerstin stellte sich genau hinter Daniel und drückte ihre Stirn in seinen Rücken.

«Papa winkt«, meldete der von seinem Ausguck.

«Wink ihm zurück.«

«Nein.«

Sie hob den Kopf und spähte nach vorne, begegnete dem Blick ihres Mannes für einen so kurzen Moment, dass keine Zeit blieb für eine Geste des Erkennens.

«Die Männergesellschaft Rheinstraße ist mit hundertachtundvierzig Bürgern und fünf Führern zum Marsch über die Grenze angetreten. «Granitznys Stimme klang, als hätte er allen Mitbürgern befohlen, auf der Stelle niederzuknien. Ein Raunen erhob sich. Die Rheinstraße war die größte Gesellschaft, und offenbar machte das Eindruck auf dem Bergenstädter Marktplatz.

Einer der Offiziellen auf seinem Pferd hatte sich unterdessen zwei Schritte auf die angetretenen Gesellschaften zubewegt und beugte sich im Sattel nach links, um in ein bereitgehaltenes Mikrofon zu sprechen:

«Guten Morgen, Bürger.«

«Guten Morgen, Herr Oberst!«, hallte es ihm entgegen.

«Reiter eingetreten!«, verfügte der Oberst, und unter den Reitern entstand Bewegung, alle Pferde platzierten sich vor den Fahnen ihrer Gesellschaften.

«Bürger und Burschen, stillgestanden!«Was auch prompt geschah. Kerstin wunderte sich, dass niemand lachte.»Das Geweeeehr über! Präsentiiiiiert, das Gewehr!«Unter lautem Rasseln und alles andere als synchron wanderte eine Reihe silberner Melonenschäler von uniformierten Schultern und senkte sich mit der Spitze gegen den Asphalt. Zur Totenehrung, hatte Jürgen ihr erklärt, aber warum die Toten sich geehrter fühlen, wenn man einen Säbel gegen alle Evidenzen als Gewehr bezeichnete, war auch ihm nicht klar gewesen. Tradition, die Antwort auf so vieles in diesen Tagen.

Die Fahnen wurden ebenfalls nach vorne geneigt. Über die Köpfe hinweg sah Kerstin, wie ein Kranz zum Komitee getragen wurde, dann stimmte die Kapelle neben dem Podest eine traurige Melodie an.

Zum ersten Mal an diesem Morgen stieg so etwas wie Freude in ihr auf, unerwartet und ein wenig geschmacklos. Asche zu Asche. Sie summte der unbekannten Melodie hinterher, deren Text offenbar nur einer Minderheit der Bergenstädter geläufig war, jedenfalls klang der Gesang dünn in der morgendlichen Luft. Andächtige Stille folgte dem letzten Ton, bis erneut der Oberst einen Befehl ins Mikrofon brüllte:

«Das Geweeeehr über! Geweeeehr ab! Rührt euch!«

Kerstin folgte den Blicken der Menge, die sich auf das Podest mit den Offiziellen richteten. Bürgermeister Grollmann war einen Schritt nach vorne getreten und breitete eine Mappe auf dem bereitgestellten Pult aus. Ein vollbärtiger Gemütsmensch mit starker Brille.

«Liebe Bergenstädterinnen und Bergenstädter, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Gäste aus nah und fern. Es ist wieder so weit: Wir feiern Grenzgang.«

Erneut senkte sich Stille über den Marktplatz. Ein Schwarm Tauben tauchte über den Dächern auf und verschwand wieder. Kerstin legte die Hände um Daniels Hüfte, drückte ihr Kinn in seinen Rücken, bis er zu zucken begann, und war froh, als er stillhielt, ohne sie abzuschütteln. Sie hatte das Gefühl, zu viel nachgedacht zu haben an diesem Morgen. Wie eine Fremde stand sie inmitten von Tausenden anderer Grenzgänger, in der mit Händen greifbaren festlichen Gespanntheit, die nur darauf wartete, sich in Ausgelassenheit zu verwandeln, sobald der Zug losmarschierte. Ihren Mann konnte sie nicht mehr erkennen in der Reihe der Uniformierten. Wenige Meter vor ihr auf der Rheinstraße kackte ein Pferd.

Was sagte der Bürgermeister?

«… eine Tradition, in der sich die Verbundenheit ausdrückt zwischen gestern, heute und morgen, zwischen den Generationen, zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einer Generation und schließlich die Verbundenheit einer ganzen Gemeinde zu ihrer Heimat und dem, was sie ausmacht: die Schönheit der Natur und die Herzlichkeit der Menschen. Wir feiern Grenzgang seit mehreren hundert Jahren, und wir werden auch noch in hundert Jahren — das heißt genauer: in achtundneunzig und dann in hundertundfünf Jahren — wieder Grenzgang feiern. «Der Bürgermeister ließ die kleine Heiterkeit verebben, zusammen mit dem von Lautsprechern verstärkten Echo seiner Stimme. Danach ballte sich die Stille über den Köpfen, als würde sie vom Himmel herab, aus Tausenden Kilometern freien Raumes ausgerechnet auf den Bergenstädter Marktplatz niedersinken.»Denn der Grenzgang ist die Vergegenwärtigung und die Feier all dessen, was wir als das Besondere an unserer Heimat empfinden, was wir bewusst pflegen, worauf wir stolz sind, was uns die Gewissheit gibt, dass wir Mitglieder einer Gemeinschaft sind, in der Mitglied zu sein sich lohnt.«