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Der Zug war auf dem Weg den Marktplatz hinauf Richtung Kaltenbach. Das Peitschenknallen klang jetzt von der Oberstadt herab, die Spitze des Zuges bewegte sich bereits durch die engen Gassen und würde bald wieder zurück sein. Hans stand oben neben der Apotheke und rauchte. Sie empfand eher Erstaunen als Erschrecken: Wie schnell es gehen konnte, wie wenig sie davon trennte, ihr Leben in Trümmern liegen zu sehen. Ein paar Hormone im Körper ihres Mannes, chemische Reaktionen, die sich irgendwann zu dem formten, was er mit ernstem Gesicht eine Entscheidung nennen würde. Und sie? Fallen würde sie, nicht kurz und hart, sondern wie in Zeitlupe, ohne es zu glauben zuerst, und vielleicht empfand sie deshalb keine Angst, sondern nur diese grenzenlose Verwunderung. Allen ging es so: Evi Endler lief mit Tommy über den Marktplatz, Daniel und Nobs waren in der Menge verschwunden. Die Bergenstädter standen abmarschbereit oder marschierten bereits, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass deren Leben so viel sicherer war als ihres.

Ihre Ehe war hinüber, sie wusste es. Schon passierte das Ende des Zuges den Platz vor der Imbissbude, und kurz darauf stand niemand mehr in ihrer Nähe. Ein Mann im blauen Overall rollte die Kabel vor dem Podest zusammen. So schnell ging das, so unglaublich schnell. Alles strömte den Kaltenbach oder die Schlossgasse hinauf oder bildete eine Gasse am anderen Ende des Marktplatzes. Sie sah Hans eine Armbewegung in ihre Richtung machen, als wollte er sagen: Worauf wartest du noch?

Worauf wartete sie noch? Der Grenzgang begann, sie hatte das Ende erreicht, und zwischen den Wolken strahlte zum ersten Mal die Sonne hervor.

5

Er war alles gleichzeitig: aufgekratzt, erschöpft, gelangweilt, gespannt, nervös. Geblendet blinzelte er ins morgendliche Sonnenlicht und bekam Lust, sich an den Straßenrand zu setzen und den ganzen Zug passieren zu lassen. Fünfzig Meter weiter begann der eigentliche Grenzgang: Der Zug hatte die letzten Häuser von Karlshütte hinter sich gelassen und bog im rechten Winkel von der Bundesstraße ab, hinein in den Wald. Den Kleiberg hinauf. Aus meterlangen Baumstämmen waren zwei Treppen gezimmert worden, um den Wanderern das Überwinden des Straßengrabens und der steilen Böschung zu erleichtern. Dann ging die Kraxelei los. Es gab weder Weg noch Stufen, noch etwa ein Geländer auf diesen zwei Kilometern hinauf zum Kamm. Rufe hallten zwischen den Bäumen herab, die Spitze des Zuges war bereits auf halber Höhe, das Ende konnte Weidmann nicht erkennen, aber das Peitschenknallen klang weit weg, kam von der Höhe der Berufsschule oder noch weiter. Und immer noch waren seine Beine schwer von drei Stunden Halbschlaf im engen Auto und der anschließenden Fahrt.

Er hatte seinen Wagen am Bürgerhaus abgestellt und sich unter die Menge auf dem Marktplatz gemischt, wortlos erstaunt angesichts des Spektakels. Leichte Sommerschuhe mit glatten Sohlen trug er, in denen man die Friedrichstraße entlangschlendern, aber nicht den Kleiberg besteigen konnte, dazu Flanellhosen, ein nicht mehr frisches Hemd, und das Jackett hatte er sich über die Schulter geworfen wie ein Museumsbesucher. Rings umher trugen alle Kniebundhosen oder groben Cordstoff, Wanderschuhe, manchmal Turnschuhe, Fleece- oder Regenjacken. Die Älteren hatten Stöcke dabei. Und vom Äußeren abgesehen: die Fröhlichkeit, der Gesang und die Hochrufe, die gute Laune in den unauffällig derben Gesichtern, all die Gemeinsamkeit — und er nicht. Drei oder vier Kilometer, vom Marktplatz durch den Ort und anschließend die Bundesstraße entlang nach Karlshütte war er mit dem Gefühl gelaufen, jeden Moment werde sich jemand zu ihm umdrehen und ihn höflich, aber bestimmt bitten, aus dem Zug auszuscheren. Nicht so zu tun, als gehöre er dazu.

Seine Mutter hatte er noch nicht gesehen und wusste auch nicht, ob er bereit war, ihr unter die Augen zu treten.

Vor dem Übergang in den Wald staute sich der Zug. Auf der anderen Straßenseite floss die Lahn am alten Preiss’schen Firmengelände vorbei, auf dem nur noch die Haupthalle stand, ein zweistöckiger Vorkriegsbau mit riesigen Fenstern, der von Weitem an einen verwaisten Bahnhof erinnerte. Drum herum wuchs Gras, kurz gemäht wie auf einem Sportplatz, unterbrochen von den hellen Steinfundamenten anderer, längst abgerissener Gebäude. Dahinter öffnete sich das Tal, Wiesen ruhten im Morgendunst, der Arnauer Friedhof streckte sich über einen sanften Hügel. Kühle rieselte den Kleiberg herab. Ein Polizeiauto hielt den Verkehr auf der B 62 an, zwei Sanitäter standen neben ihrem Wagen und sahen dem Zug zu. Die Luft roch nach Harz und Bier. Ein Reisebus wartete mit laufendem Motor, um die Mitglieder der voranmarschierenden Kapelle aufzunehmen und zum Frühstücksplatz zu fahren. Instrumente wurden eingepackt, Musikanten wischten sich die Stirn und ließen Flaschen kreisen. Ein Mann in Lederhose und mit krebsrotem Gesicht, die Tuba auf dem Rücken, stand neben der Bustür und rauchte.

Jedes Mal sah er weg, wenn ihm in der Menge ein bekanntes Gesicht begegnete.

Sofern es beim Grenzgang ums Wandern ging, war das hier der Höhepunkt: Tausende Wanderer kämpften sich auf dem noch feuchten Waldboden nach oben. Vierzig Prozent Steigung zwangen die meisten, mit ausgestreckten Armen nach Wurzelstücken und dünnen Baumstämmen zu greifen oder die Hände auf den Boden zu setzen. Wer nicht aufpasste, begann zu rutschen. Hier und da saßen die Ersten auf dem Hintern, während sportliche junge Männer bergan sprangen und ihren Freundinnen eine helfende Hand anboten. Nichts als ein flacher Graben, eine dunkle Scharte auf dem Waldboden markierte den Grenzverlauf. Überall wurde gelacht, gestöhnt, schwer geatmet. Mit entschlossenen Gesichtern setzten Senioren einen Fuß vor den anderen, stießen ihre Wanderstöcke in den Boden und machten sich gegenseitig Mut. Kinder hatten ihren Spaß.

Wie die Wombatze, dachte Weidmann beim Anblick all der wackelnden Hinterteile. Er ließ die Holztreppe hinter sich und begann den Aufstieg, mit einer Hand das zusammengerollte Jackett haltend, die andere in Bereitschaft, nach dem nächstbesten Halt zu greifen. Bereits nach wenigen Schritten begann ein Ziehen in den Oberschenkeln, und zum ersten Mal an diesem Morgen war er amüsiert über seine eigene deplatzierte Erscheinung, seine akademische Unbeholfenheit angesichts der Herausforderung dieses Hügels. Blutige Blasen würde er sich holen, dazu Muskelkater in Schenkeln und Waden, aber es war ihm egal. Der Kleiberg stand vor ihm und wollte bezwungen werden. Er wischte sich die Stirn und nickte. Hier und da lehnten die ersten Grenzgänger gegen Baumstämme und verfluchten ihr Übergewicht. Der ganze Wald war voller Menschen. Blitzlichter von Kameras erhellten die Dämmerung unter dem dichten Blätterdach. Der Aufstieg zum Kleiberg war einerseits eine Übung in Bescheidenheit und andererseits die beste Gelegenheit, sich so zu fühlen, als würde man eine wirkliche Leistung erbringen, indem man Grenzgang feierte. Fremde Menschen zogen an Weidmann vorbei. Er hatte Lust auf Bier. Zweimal rutschten seine Schuhe unter ihm weg, als würden sie sich aus eigenem Entschluss auf den Rückweg machen wollen, und zweimal stieß er mit den Knien in weichen Waldboden, behielt braune Erdflecken auf der Hose zurück und das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Zwölf Stunden war es her, dass er sich wie ein Idiot benommen und einen Stein durch das Fenster des Historischen Seminars der Humboldt-Universität zu Berlin geschmissen hatte, aber jetzt erfreute er sich an der ungewohnten körperlichen Anstrengung, der kaltfeuchten Waldluft und dem eigenen Schweiß. Den Blick auf den Boden gerichtet, zogen die Bergenstädter den Hang hinauf, dickköpfig engagiert im Kampf gegen sich selbst. Ein merkwürdiger Menschenschlag, dachte Weidmann. In den Adern dieser Grenzgänger schien ein dunkler, schwerer Most zu fließen, der sich in Momenten der Anstrengung bewährte. Mochten die Beine noch so schwer und das Ziel noch so fern sein, aufzugeben kam nicht in Frage, das hatte mit Ehrgeiz nichts zu tun, sondern entsprang einer innigen Freundschaft mit dem eigenen inneren Schweinehund. Vielleicht hatte Kamphaus das gemeint, als er fragte, ob er sich eigentlich selbst als Dickschädel bezeichnen würde.