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Schlegelberger war hager, zum Beispiel, und ist es wahrscheinlich noch.

«Was halten Sie von der Sache?«, fragt Granitzny schließlich aus der Tiefe seines Stuhls.»Kommt Ihnen das nicht komisch vor?«

«›Komisch‹ wäre nicht mein Wort«, sagt Weidmann.»Nicht, wenn so was in meiner Klasse passiert.«

«Ausgerechnet Daniel Bamberger und ausgerechnet Tommy Endler, das meinte ich. Nicht ›komisch‹ komisch, sondern: merkwürdig. Unerklärlich. «Ununterbrochen sieht Granitzny ihn an, und wie immer fühlt Weidmann sich unbehaglich, wenn er so taxiert wird, egal ob damals von Schlegelberger oder jetzt von seinem Chef. Egal von wem. Er beschränkt sich auf ein Nicken und sieht nach draußen auf den Schulhof: Oberstufenschüler lungern auf den Rondellen herum, ein paar schlendern unauffällig Richtung Fahrradständer, um zu rauchen. Die Sonne scheint auf den Ort, auf die Straßenzüge und Häuser, die wie die Reihen eines riesigen Amphitheaters im Morgenlicht liegen. Zum ersten Mal in diesem Monat entspricht das Wetter dem Kalender, sieht der Mai nach Mai aus. Ein grüner Ring aus Bäumen schließt den Ort ein und umläuft das Tal, zieht sich von Hügel zu Hügel und durch den gesamten Landstrich, der nicht ohne Grund ›Hinterland‹ heißt.

Man könnte bis Kassel wandern, vier oder fünf Tage lang, ohne einmal aus dem Schatten der Bäume zu treten.

«Wie auch immer. Mit dem Vater, Jürgen Bamberger, bin ich gut bekannt, wie Sie wissen, und den werde ich heute Vormittag mal einbestellen. Kennen Sie einander eigentlich?«

«Wie man sich so kennt hier.«

Granitzny nickt und gestattet seinen Gedanken eine kleine Abschweifung. Weidmann erkennt es an seinem Blick.

«Sie sind in keiner Gesellschaft, oder?«

«Ab und zu geh ich zum Rehsteig. Selten.«

«Kein Grenzgänger.«

«Kein echter.«

«Dabei ist Ihr Vater mal zweiter Führer gewesen. Einundsiebzig?«

«Einundsiebzig.«

«Nicht Ihr Niveau, nehm ich an.«

«Nein.«

Wahrscheinlich redet sonst kein Kollege so mit Granitzny, aber dem imponiert es, wenn einer schon mal an der Universität unterrichtet hat, darum quittiert er die Antwort nur mit einem Nicken. Man sieht das Schloss vom Rektorzimmer aus, den runden, an die Schachfigur erinnernden Turm und das Schieferdach des Gebäudes, das wie ein gekentertes Schiff über den grünen Wipfeln treibt.

«Dann zurück zum Geschäftlichen. Rehsteig — da wohnt doch Daniels Mutter. Kennen Sie die? Kerstin … heißt sie noch Bamberger?«

«Werner. Sie war bei Elternabenden ein oder zwei Mal. «Er sagt auch das mit Blick aus dem Fenster. Granitzny hat diese Art, Fragen zu stellen, die einen argwöhnen lässt, er kenne die Antworten selbst und wolle seinem Gegenüber nur auf den Zahn fühlen — diese Marotte allerdings erfüllt Weidmann nicht mit Unbehagen, sondern mit einem Anflug derselben Unerschütterlichkeit, die Granitznys Körperfülle ausstrahlt. Der muss schließlich nicht alles wissen. Wer sich zu tarnen versteht, braucht nicht Versteck zu spielen, so viel hat er gelernt in den letzten sieben Jahren, hat es auch zu Konstanze gesagt neulich und prompt zur Antwort bekommen: Ich weiß, dass du nicht glücklich bist. Aber du bist selbst schuld.

Neun Uhr fünfundzwanzig verkündet die Uhr über der offenen Tür zum Sekretariat. Montag der fünfzehnte Mai, und die Sonne draußen erfüllt ihn mit einer Melancholie, wie es selbst der Bergenstädter Winter nicht vermag, trotz seiner Überlänge. Zum Teufel mit alldem, denkt er.

«Sehen Sie, es würde jetzt von Ihnen erwartet, dass Sie sagen: Okay, mit der Mutter rede ich. «Granitzny hängt in seinem Stuhl, als wäre er beim Zahnarzt.

«Was soll ich ihr sagen?«

«Dass ihr Sohn … dass ihr Sohn sich zwar gewissermaßen artgerecht, aber unkorrekt verhalten hat an der Schule und dass wir uns Konsequenzen vorbehalten.«

«Artgerecht?«

Unerwartet behände richtet sich Granitzny auf und kommt dem Schreibtisch so nah, wie es sein Bauch gestattet. Seine Miene ist aufgeweckt jetzt, neugierig und lässt so etwas wie Vorfreude erkennen. Wahrscheinlich ist auch das ein Effekt der Jahreszeit und des plötzlich umgeschlagenen Wetters. Dem Rektor sitzt der Schalk im Stiernacken, und seit er nicht mehr raucht, erlaubt er sich manchmal, seinen Launen einfach nachzugeben.

«Es würde mich interessieren, wie Sie als Sechzehnjähriger waren.«

Einen Moment lang sehen sie einander in die Augen — Granitznys Tränensäcke könnte man für angeklebt halten, so schwer sind die — dann ruft Frau Winterlich aus dem Nebenzimmer:

«Unauffällig. Hab seine Mutter nie klagen hören.«

Weidmann nickt, sagt aber nichts. Unauffällig ist wahrscheinlich besser getroffen, als Frau Winterlich ahnt. Unauffällig passt.

Granitzny lehnt sich wieder zurück, augenscheinlich unzufrieden.

«Frau Winterlich, würden Sie uns zwei Kaffee bringen.«

«Ich muss gleich los. «Weidmann zeigt auf die Uhr, um halb zehn gongt es, aber nicht mit Granitzny:

«Sie haben eine Freistunde jetzt, wissen Sie das nicht?«

Granitzny hat einen zusammengefalteten Liegestuhl neben dem Heizkörper stehen, und wenn das Wetter es zulässt, sieht man ihn nachmittags um fünf, wenn nicht einmal mehr der Hausmeister sich noch auf dem Schulgelände aufhält, im offenen Hemd vor dem Haupteingang sitzen und Zeitung lesen. An sechs Tagen in der Woche rollt sein silbergrauer Ford als Letzter vom Parkplatz, und am siebten gibt es dort sowieso keine anderen Wagen. Ohne Granitznys unermüdlichen Einsatz würde es nicht einmal das Schulgebäude geben, diesen zweistöckigen Neubau in den Lahnwiesen. Das hier ist Granitznys Schule, Genitivus possessivus ohne Abstriche.

«Wenn ich mit ihr rede«, sagt Weidmann,»müsste ich aber präziser werden. Als Mutter wüsste man ja gerne, welcher Art die Konsequenzen sind, die wir uns vorbehalten.«

«Wie schätzen Sie’s ein, ich meine: Ist doch kein Fall für einen Verweis von der Schule.«

«Nein.«

«Die Prügelstrafe ist abgeschafft, was bleibt noch?«

«Eine ungemütliche halbe Stunde im Rektorzimmer.«

«Seh ich kommen.«

«Zu überlegen wäre, ob man die drei in verschiedene Klassen steckt.«

«Da seh ich Probleme mit den Kollegen.«

«Und ich glaube nicht, dass Tommy Endler der Einzige war, den sie … soll man ›Erpressung‹ sagen?«

Mit einer Handbewegung wischt Granitzny das Wort beiseite.

«Was mich interessieren würde: Warum macht der kleine Bamberger da mit? Sieht ihm doch nicht ähnlich, oder? Die beiden anderen hab ich schon häufiger zur Schnecke gemacht, aber Daniel Bamberger …«

Frau Winterlich kommt mit zwei Kaffeetassen herein. Sie und Granitzny sind ein Fall für Cartoonisten: er der Elefant und sie mit dieser vogelhaften Art, den Kopf zu bewegen, als picke sie ihrem Gegenüber unsichtbare Körner aus dem Gesicht. Sie ist schon Sekretärin gewesen, als Weidmann hier noch zur Schule ging, das heißt nicht hier, sondern im alten Schulgebäude in der Rheinstraße, das seit dem Umbau das Rathaus beherbergt. Strenger Dutt und graue Strickweste, und niemand an der Schule kann sich vorstellen, wie es nach den Sommerferien sein wird, das Sekretariat zu betreten, ohne Frau Winterlich darin.

«Hormone«, gibt sie jetzt zu bedenken und dreht ihre spitze Nase in Weidmanns Richtung.»Sind alles die Hormone. Milch?«

Weidmann winkt ab. Zwanzig Minuten später tritt er hinaus auf den hinteren Schulhof, in den Glanz der Vormittagssonne auf immer noch taufeuchten Lahnwiesen. Bis zum Rand des Schulhofs geht er, steigt über den meterhohen Rasenwall gegen das Frühjahrshochwasser und folgt dem schmalen Teerweg Richtung Turnhalle. Von der Endgültigkeit abgesehen, ist der Übergang vor allem tröstlich — das Verschwinden der Sehnsucht und der Eintritt in eine Art Leere, die einen mit viel weniger Angst erfüllt, wenn man erst mal drin ist. Es ist deine alte Schwarzseherei, bloß dass sie jetzt einen Zug ins Zynische bekommt. Konstanze glaubt nämlich, dass Zynismus die letzte Stufe vor der Verzweiflung ist und nicht etwa die erste danach. Außerdem kann eine junge Mutter mit Resignation nichts anfangen, egal wie souverän die daherkommt, und vielleicht hat er’s auch einfach falsch erklärt. Hat das Gefühl, den Trost darin übertrieben ausgemalt und sich am Ende verraten — zum Beispiel damit, keine Fotos von dem Kleinen sehen zu wollen.