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Je höher er stieg, desto mehr Schweiß lief ihm über die Schläfen ins Ohr und ließ die Geräusche ringsum zu einem Rauschen verschwimmen. Hauptsache, du gibst dein Bestes, hatte sein Vater ihm immer eingeimpft, und das war weniger Ansporn als Beruhigung gewesen, denn es hieß: Und wenn’s dann nicht klappt, war’s nicht deine Schuld. Die Bergenstädter Genügsamkeit, das Mostige — auch davon hatte der Bürgermeister am Marktplatz gesprochen, wenngleich in anderen Worten. Und er, Thomas Weidmann, war dem nie entkommen. Was damals in den ersten Berliner Jahren in ihm eher geglimmt als gebrannt hatte, war ein mit Bergenstädter Phlegma durchsetzter Ehrgeiz gewesen, der vor allem der Form genügen und sich ein gutes Gewissen für den Fall des Scheiterns erarbeiten wollte. Mehr nicht oder jedenfalls nicht viel mehr.

Wie immer übertreibst du maßlos, hörte er Konstanze sagen und schüttelte den Kopf. Je schneller sein Atem ging, desto klarer erkannte er seine Situation. Was für eine Farce! Eine Flucht im Kreis. Und jetzt war wieder Grenzgang, waren sieben Jahre verflogen und vorbei und bald noch mal sieben und dann wieder sieben und immer so weiter, bis man zu denen gehörte, denen die säbelschwingenden Führer am Marktplatz ihre Reverenz erwiesen. Tradition! Wald! Heimat! Man gedachte der Toten und bekam Lust auf ein kühles Bier. War das Tradition? Während der Rede des Bürgermeisters hatte Weidmann in seinen Stadtkleidern in der Menge gestanden und sich umgeschaut: Lauter ernste, beinahe ergriffene Gesichter, so als würden für einen Moment alle glauben, was ihnen aus den Lautsprechern entgegenhallte. Und jetzt, während er seine Schritte seitlich in den Hang setzte, um nicht abzurutschen auf dem immer steiler werdenden Boden, jetzt glaubte er es selbst. Genau das war Tradition: Sich halten an das, was man hat. Vereinzelt stieß Sonnenlicht durch die Blätter der dicht stehenden Bäume. Sein Vater hatte daran geglaubt, so fest und selbstverständlich wie daran, dass sein Sohn es eines Tages zum Professor bringen würde, und nur weil er sich in dem einen getäuscht hatte, musste das andere keine Illusion sein. Tausende kämpften sich an diesem Morgen gemeinsam den Berg hinauf, und er empfand es als Glück … oder beinahe zumindest. Eine schlichte und bescheidene Vorform des Glücks, die mit Luft und Erde zu tun haben mochte. Oder mit Gemeinschaft und Bier. Nur dass sie Wurzeln haben könnte, erschien ihm unwahrscheinlich. Und wenn, dann bestanden sie in einem Sinn für Verlust und leichter Beschämung.

Er erreichte den ersten Waldweg, der den Kleiberg umlief. Spürte seinen Puls in der Kehle pochen. Mehr und mehr Wanderer ruhten sich auf dem Weg aus und blickten lachend bergab auf die nachfolgenden Grenzgänger. Irgendwo wurde immer Bier getrunken. Zwei Jungburschen mit schweren Krügen entfernten sich vom Zug und buddelten neben einer einzelnen Fichte ein paar Bierflaschen aus dem Boden — Seidippeträger mussten den Durst einer ganzen Burschenschaft stillen, das war ohne Depots unterwegs nicht zu machen.

«Thomas?«

Weidmann blickte auf und erkannte seine Tante: Mit Wanderstock, Hut und Weste lehnte sie etwas abseits an einem Buchenstamm, wischte sich mit einem Tuch die Stirn und machte vor Überraschung große Augen.

«Hallo, Tantchen. Brauchst du Hilfe?«, sagte er so beiläufig und selbstverständlich wie möglich.

«Heute Morgen am Markplatz hab ich noch zu Ingrid gesagt: Dass er sich das entgehen lässt. Und jetzt stehst du hier wie … Thomas, mein Lieber. «Sie winkte ihn zu sich heran, und Weidmann hatte gerade noch Zeit, der Frau an ihrer Seite zuzunicken, bevor er sich herzen und küssen ließ, den Blick über Annis Schulter hangabwärts gerichtet.»Wo kommst du denn plötzlich her?«

«Aus Berlin.«

Anni Schuhmann schüttelte den Kopf und steckte das Tuch wieder ein.

«Unberechenbar, die jungen Leute. Darauf trinken wir aber ein Pikkolöchen. Weiß denn Ingrid gar nicht, dass du hier bist.«

«Hab sie noch nicht gesehen. «Er zuckte mit den Schultern. Die Frau neben seiner Tante war etwas jünger als er, groß gewachsen und schlank, mit graublauen Augen. Gerade als er ihr die Hand geben wollte, reichte seine Tante ihm eine kleine Sektflasche und fragte:»Für Sie auch? Du kennst doch Frau Bamberger, Thomas?«

«Guten Tag«, sagte er.

Sie murmelte einen Gruß in seine Richtung und ein Dankeschön zu Tante Anni, als die ihr ebenfalls eine kleine Flasche aus ihrem Rucksack hinhielt.

«Herr Bamberger hat seine Kanzlei direkt bei uns gegenüber. So, ihr Lieben: Prost!«

«Wir kennen uns noch von der Schule. Geht’s ihm gut?«Er öffnete die Flasche und nickte in ihre Richtung.

«Bestimmt«, sagte Frau Bamberger.

«Wie siehst du eigentlich aus?«Tante Anni schüttelte immer noch den Kopf.»Hast du gar keine Wandersachen?«

«Ich bin erst heute Morgen angekommen. «Das war vermutlich keine ausreichende Erklärung, aber er beschloss, sie einstweilen als solche zu betrachten. Schweiß lief ihm über Schläfen und Rücken. Den gerade gewonnenen ironischen Abstand zu seiner Situation galt es zu erhalten und auszubauen. Sekt, auch wenn er nicht mehr ganz kalt war, konnte dabei durchaus behilflich sein.

Frau Bamberger neben ihm sah eher abwesend auf das Treiben, die Arme verschränkt, die kleine Flasche vor den Lippen, als wollte sie hineinpfeifen. Sie trug T-Shirt und Jeans und sah trotzdem anders aus als die meisten Frauen, die an ihnen vorbeiwanderten und neidische Blicke auf die Sektflaschen warfen. Da war ein stolzer Zug um die schmalen Lippen, sie trug wenig Schmuck, und ihr Gesicht wirkte, als würde sie im Stillen angestrengt nachdenken.

«Heute Morgen stand ein Auto mit Berliner Kennzeichen vor dem Bürgerhaus«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.

«Meins.«

«Wo hast du denn geschlafen?«Tante Anni schüttelte in einem fort den Kopf.

«Mach dir um mich keine Sorgen, Tantchen. Wo ist Heinrich?«

«Nimmt den Bus. «Sie machte das Gesicht, das sie immer machte, wenn etwas sie bedrückte und sie dagegen ankämpfte mit diesem Lächeln, das er noch von früher kannte.»Ich hab gesagt: Ich fahr mit dir, Heinrich. Aber davon wollte er nichts wissen. Und jetzt sitzt er zu Hause. «Sie sah auf die Uhr.»Wahrscheinlich nimmt er den ersten Bus um kurz nach neun. «Damit wandte sie sich an Frau Bamberger:»Die Hüfte, gell. Bei mir geht’s auch langsam los, aber bei ihm war’s der Krieg.«

«Dabei hätten Sie mich beinahe noch überholt am steilsten Stück.«

«Ach was, so eine sportliche junge Frau wie Sie! Wo ist denn Ihr Sohn?«

«Wüsste ich auch gerne. «Sie blickte den Hang hinab und wieder hinauf.»Wahrscheinlich da oben.«

«Ach, und seht mal, wer da kommt. «Aus Tante Annis Gesicht war wieder alle Kümmernis verschwunden.»Ingrid, Ingrid! Äich doochde, du bässd lengsd duwwe. Unn jetz gucke mol, wer hie städd.«

Weidmann blickte sich um und sah seine Mutter den Berg heraufkommen. Die Anstrengung stand ihr ins Gesicht geschrieben, dann blieb sie stehen und schüttelte den Kopf, während sich ein Leuchten auf ihre Züge legte.

«Wenn das mal nicht mein Sohn ist. «Wie immer beim Wandern hatte sie sich ein Tuch um die Stirn gebunden, auf dem sich erste dunkle Flecken zeigten. Er ging ihr entgegen und umarmte sie ebenso wie zuvor seine Tante und dachte, was für ein Glücksfall es war, dass sie einander erst hier begegneten. Noch eine halbe Stunde zuvor hätte er sich durch seinen verkniffenen Blick verraten.