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«Hab mich ganz kurzfristig entschlossen «, sagte er.

Noch einmal hielt sie ihm die Wange hin, blickte ihm prüfend ins Gesicht und dann an ihm herab.

«So sehen also Professoren aus, wenn sie wandern gehen. Du hast nicht geschlafen.«

«Trink einen Sekt mit uns«, sagte er und half ihr die paar Schritte hinauf auf das Plateau des Waldweges.

«Kinder, Kinder, dieser Berg schafft mich. Un Anni, äich hoos imma werra gesoad: Derres Joar ess doas läzde Mol. Wann ma i sewwe Joar noch leewe, nomme ma den Bus. «Sie hakte sich bei ihrer Schwester unter, und trotz dreier Jahre Altersunterschied glichen die beiden einander fast wie Zwillinge.

«Ich hab’s mir fast gedacht«, sagte sie.»Du hast schon als Kind immer erst Nein gesagt und trotzdem nie gerne was verpasst. Wäsde noch, Anni, wie he imma …?«Und so weiter, und so fort. Sie standen zusammen und redeten, Weidmann ließ sich von Zeit zu Zeit liebevoll in die Wange kneifen und gab Frau Bamberger mit Blicken zu verstehen, dass er sich nicht unbedingt altersgerecht behandelt fühlte. Die ihrerseits lächelte abwesend und schaute zwischendurch den Hang hinauf und hinunter, als drohte ihr von irgendwo Gefahr. Er wunderte sich, dass sie nicht weiterging, um nach ihrem Mann oder ihrem Sohn zu schauen. Der Zug der Wandernden schien unterdessen weder abzureißen noch auszudünnen; zwischen den Bäumen hindurch ging der Blick bis hinunter auf die Bundesstraße, und immer noch kamen aus Richtung Bergenstadt Gesellschaften mit ihren Führern und Fahnen und bogen in den Kleiberg ab. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte Weidmann das Gefühl, sicher auf dem Boden zu stehen. Der Sekt tat gut, stimmte ein in seinen erhöhten Pulsschlag und prickelte die Kehle hinab.

Frau Bamberger hatte ihren schon ausgetrunken.

«Ich nehme Ihnen das ab«, sagte er und griff nach der Flasche.

«Danke.«

«Bei welcher Gesellschaft sind Sie, wenn ich fragen darf?«

«Rheinstraße. Mein Mann ist da …«, sie zuckte mit den Schultern,»Führer.«

«Verstehe. «Jürgen Bamberger gehörte zu jenen Bergenstädtern, die auf jeder Hochzeit tanzten und in allen Vereinen einen Posten innehatten. Seine Frau wirkte etwas zu klug für einen solchen Hinz-und-Kunzler, aber sie hatte ja noch kaum was gesagt.

Als sie weitergingen, brachte er das Gespräch auf andere Themen. War überrascht, wie sie ohne zu zögern nach seiner Hand griff, wenn er sie ihr in einer besonders steilen Passage anbot. Sie kamen beide außer Atem beim Sprechen. Der Sekt schien eine belebende Wirkung auf Frau Bambergers Zunge zu haben, und auf ihre Gesichtszüge auch. Irgendwie wurde sie jünger, je weiter es bergan ging, band sich im Gehen die Haare zum Zopf und krempelte die Hose bis zu den Knien hoch. Dann entdeckten sie, dass sie zur selben Zeit in Köln studiert hatten, und verglichen für den Rest des Aufstiegs Adressen, Bekannte und Lieblingsorte, bis Weidmann sagte:

«Bestimmt sind wir uns mal beim Altweiberkarneval begegnet, und Sie haben mir die Krawatte abgeschnitten.«

«Kann sein«, sagte sie, eine Spur zu nachdenklich.

Unmittelbar über ihnen flachte der Kleiberg ab, einige Felsbrocken stießen durch den Waldboden, und durch die lichter werdenden Blätter fielen Sonnenstrahlen auf die Wanderer. Zwei Jungs blickten ihnen von einem steinigen Vorsprung aus entgegen, der eine schaute konzentriert auf die Stoppuhr in seiner Hand, und der andere erwiderte etwas abschätzig Frau Bambergers Winken.

«Ihr Sohn?«fragte er.

«Ja. «Ihm gefiel der Stolz in ihrer Stimme, und ihm gefiel überhaupt ziemlich viel an ihr, dachte er, während sie zu ihrem Sohn ging und er sich etwas abseits hielt.

«Geht’s dir besser, mein Schatz?«, hörte er sie fragen.

«Schatz mit Furz. Zwölf Minuten zweiunddreißig warten wir schon hier. Warum trödelst du immer so?«

«Wir waren schon vor dem Wettläufer hier oben«, sagte der andere.

«Toll seid ihr. Hast du deinen Vater irgendwo gesehen?«

«Der ist vor sechs Minuten fünfzehn hier vorbeigekommen. «Gegen seinen Willen empfand Weidmann das als gute Nachricht. Er blickte den Hang hinab und versuchte zu Ende zu denken, was ihm während des Aufstiegs durch den Kopf gegangen war. Schon den ganzen Sommer über hatte sich in ihm die Ahnung breitgemacht, dass sein Ehrgeiz vergebens und er auf ganzer Linie gescheitert war. Und nun kam die Erkenntnis hinzu, dass er nie Ehrgeiz im eigentlichen Sinne besessen hatte, sondern allenfalls dessen hässlichen Zwilling, die Eitelkeit. Bloß was folgte daraus? Sollte er die Hände in den Schoß legen und sich der Einsicht ergeben, dass in allen menschlichen Dingen die Vergeblichkeit nun einmal den längsten Atem besitzt? Was unterschied diese Einsicht dann noch vom Bergenstädter Phlegma, außer dem Umweg, auf dem er zu ihr gelangt war? Anders gesagt: Nichts gegen die Einsicht als solche, aber ohne die Fähigkeit, mit ihr auch leben zu können, war sie offensichtlich von begrenztem Wert.

«Überlegen Sie, den Berg noch mal runterzugehen?«

Er drehte sich um. Frau Bamberger stand mit verschränkten Armen, wo sie vorher gestanden hatte — als würde sie ihn schon eine geraume Weile beobachten. Die beiden Jungs waren verschwunden.

«Bitte?«

«Sie stehen so da. «Ihr Kinn wies den Hang hinab.

«Nein. Ich gehe nicht gerne zurück. Wo ist Ihr Sohn?«

«Auf und davon.«

«Kennen Sie das auch? Dieses Gefühl, plötzlich etwas zu verstehen, was Sie eigentlich schon immer gewusst oder geahnt haben? So eine Art Wahrheit. «Abrupt hielt er inne. Er hatte nicht nachgedacht beim Sprechen, sondern einfach gesagt, was ihm durch den Kopf ging, aber sie sah ihn an und nickte, ohne die Verschränkung ihrer Arme zu lösen.

«Sie würden sich wundern. Sie würden sich sehr wundern, wenn Sie wüssten, wie kurz es her ist, dass ich zuletzt genau dieses Gefühl hatte.«

«Gut. Sehr gut. Dann können Sie mir auch sagen, ob in diesem Gefühl eher ein Trost liegt oder ein Grund, Angst zu haben.«

Für einen längeren Moment blickte sie ihn an, als ob sie fragen wollte: Was wollen Sie eigentlich von mir? Sonne fiel auf ihr Gesicht und malte ein Relief winziger Falten darauf.

«Nein«, sagte sie schließlich.»Ich befürchte, gerade das kann ich nicht.«

* * *

Zwanzig Röllchen liegen in einer Reihe auf dem Tisch, daneben der Kamm, die Nadeln, das Haarwasser, eine silbrige Dose mit Haarspray, und ihre Mutter sitzt rundgebeugt auf ihrem Stuhl, sieht hinaus in den Regen und sagt zum dritten Maclass="underline"

«Ist doch was, ja, brauchst nicht mehr immer mit den schweren Kannen …«

Die Frau von der Diakonie ist weg, nur der Geruch von Badezusatz und Schweiß, den sie beim Verlassen des Badezimmers hinter sich herzieht, schwebt noch durch die Diele und herein in das Zimmer ihrer Mutter. Omas Badewumme, nennt Daniel sie, wegen ihres Körperumfangs und dem geröteten Gesicht und weil die Vorstellung, von Frau Kolbe gebadet zu werden, etwas ebenso Lustiges wie Beängstigendes hat, für einen Pubertierenden allemal. Deren Unterarme können es mit Kerstins Waden aufnehmen.

«Nicht so fest«, sagt ihre Mutter, auch das zum dritten Mal.»Machst mich ja noch ganz kahl.«

«’tschuldigung. «Sie dreht das letzte Röllchen einen Millimeter zurück und befestigt es mit einer der Nadeln, die ihre Mutter ihr über die rechte Schulter hinhält. Dünnes, weißes Haar und dazwischen blasse, altersfleckige Kopfhaut. Draußen rauscht der Regen. Ihre ungeübten Finger zittern, wenn sie eine Strähne von den Spitzen her eindreht, mit einer Hand festhält und mit der anderen die Nadel hindurchsteckt. An den verspannten Schultern ihrer Mutter merkt sie, wie diese auf den Moment wartet, da sie zu fest zieht oder zu tief sticht, geduckt, als rechnete sie mit einem Schlag auf den Hinterkopf.

«Fertig. «Sie lässt los und sieht nach draußen.»Würde dir eigentlich nicht auch ein Kurzhaarschnitt stehen? So wie Tante Gerdi.«