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«Drei Nadeln hab ich noch, ja.«

«Aber keine losen Haare mehr. Zwanzig Minuten Haube, danach gibt’s Essen.«

Eine Woche Sonnenschein hat den Garten in ein Meer aus Blättern und Blüten verwandelt, die sich jetzt dem Regen entgegenstrecken. Auf der Terrasse hört sie das Plätschern des Wassers, das durch die geöffnete Rinne ins Regenfass strömt. Außen auf der Fensterbank machen vereinzelte Tropfen ein hohles Geräusch.

«Wo ist Daniel?«

«Bei seinem Vater. «Mit der Rechten zieht sie die elektrische Trockenhaube heran, nimmt ihrer Mutter die Haarnadeln aus der Hand und platziert die unförmige, an eine Tauchglocke erinnernde Haube über den aufgetürmten Lockenwicklern.»Zwanzig Minuten«, wiederholt sie und drückt auf Start, bläst die Entgegnung ihrer Mutter mit einem Schwall warmer Luft fort.

Keinen Seufzer beim Verlassen des Zimmers, da achtet sie drauf wie früher auf die Fingernägel ihres Sohnes.

Auf der Terrasse bildet das Wasser kleine Pfützen auf den Grünsteinplatten, aber der Regen lässt bereits wieder nach. Im Westen dünnen die Wolken aus, lassen rot gefiltertes Licht durch und bringen die frisch gewaschenen Farben im Garten zum Leuchten; lila und weiß der Flieder mit seinen schwer duftenden Blüten, die sich jetzt unter dem Regen beugen. Die steileren Partien des Hanges dürfen wuchern nach Belieben, da quellen Hahnenfuß, Veilchen und Ehrenpreis bunt aus der Erde, und erst wo es wieder flacher wird, ranken sich Rosen ein stützendes Holzgitter empor, die Blüten offen, aber noch kelchförmig, gleichzeitig zart und fest. Die schneidet sie mehrere Tage lang, zögernd wie ein Friseurlehrling im ersten Lehrjahr, tritt nach jedem zweiten Schnitt einen Schritt zurück und prüft aus kritischen Augen das Ergebnis. Rosen wollen nicht nur gepflegt, sondern gebändigt werden, bis alle Wildheit sich in Kraft verwandelt hat, die aus weiten, im Wind zitternden Blüten strömt.

Was ist los mit dir? würde Anita fragen. Es sind bloß Pflanzen. Bist du nervös?

«Halt den Mund«, sagt sie leise und geht in die Küche.»Du weißt nicht, wie es ist.«

Zum ersten Mal, seit sie einander kennen, hat Anita sie nicht zum Geburtstag angerufen. Freue mich über Nachrichten nach dem Signalton und bin Anfang Juni wieder unter dieser Nummer zu erreichen. Wo sie sich bis dahin aufhält, verrät ihr Anrufbeantworter nicht.

Kerstin nimmt blaurandige Teller und Becher aus dem Küchenschrank und beschließt, an diesem Abend den elektrischen Badestuhl aus der Wanne zu heben, sich mit einem Glas Wein ins heiße Wasser zu legen und in der Brigitte zu blättern, die seit einer Woche ungelesen auf dem Wohnzimmertisch liegt. Mehrere Male sieht sie zum Telefon, während sie den Tisch deckt. Draußen hört es auf zu regnen. Eher um die Zeit zu vertreiben denn aus Notwendigkeit fegt sie das Wasser von der Terrasse und kontrolliert den Flieder auf Blattläuse, dann kehrt sie ins Haus zurück und hilft ihrer Mutter beim Entfernen der Lockenwickler.

Zum Abendessen macht sie Toast mit Camembert, Ei und Tomaten. Sieht durch das Küchenfenster, wie in die Dämmerung hinein noch einmal die Sonne hervorkommt und ihr bernsteinfarbenes Licht über den Blättern der Hecke ausgießt. Wie auf Meinrichs Hauswand die Schattenlinie steigt, so schnell oder langsam wie der große Zeiger der Uhr.

Der Toast wird gar. Sie stellt den Ofen aus und sieht nach ihrer Mutter. Die ordnet gerade alle Lockenwickler einzeln in eine leere Keksdose und trägt noch den grünlichen Plastikumhang um die gebeugten Schultern. Prüft ihre Frisur in einem kleinen Stellspiegel, hat wie immer unter der Haube das Hörgerät rausgenommen und merkt nicht einmal, dass jemand ins Zimmer getreten ist. Kerstin sieht ihr dabei zu, wie sie einen Lockenwickler nach dem anderen vom Tisch nimmt, mit zitternden Händen, und wie sie manchmal in der Bewegung innehält, gar nichts tut, einfach nur dasitzt. Reglos. Dann der nächste Handgriff. Der Anblick dieser unmenschlichen Langsamkeit erfüllt Kerstin mit einer Mischung aus Mitleid und Wut, gegen die sie sich schließlich nur mit dem Schließen der Tür wehren kann. Noch einmal tritt sie auf die Terrasse. Die Luft ist kühl jetzt. Sie friert an den nackten Waden.

Seit einer Woche nimmt sie sich jeden Abend vor, Daniels Klassenlehrer anzurufen, um einen Termin für ihr Gespräch zu vereinbaren, und tut es dann doch nicht. Immerhin, ihren Anwalt hat sie angerufen, zum ersten Mal seit drei Jahren, und prompt ist gestern eine Sendung mit Informationsmaterial zum neuen Unterhaltsrecht gekommen. Die entscheidenden Passagen mit gelbem Textmarker unterstrichen: Stärkung der nachehelichen Eigenverantwortung, keine unbegrenzte Lebensstandardgarantie mehr, Begrenzung des Unterhaltsanspruchs im Sinne eines moderaten Abschmelzens des Unterhalts — die Prosa der neuen Bescheidenheit. Ob sie sich eine Arbeit werde suchen müssen, hat sie am Telefon gefragt, und auch dazu findet sie einen gelb unterlegten Satz: Die Rückkehr in den erlernten und vor der Ehe ausgeübten Beruf soll künftig eher zumutbar sein; dies selbst dann, wenn damit ein geringerer Lebensstandard als in der Ehe verbunden ist. Am Telefon hatte der Anwalt noch gesagt: eventuell. Wie das gehen soll mit ihrer Mutter im Haus, wusste er spontan auch nicht zu sagen. Ob deren Pflegebedürftigkeit amtlich festgestellt sei?

Nein, hat sie gesagt, worauf der Anwalt ihr zu einem Antrag auf Pflegegeld riet. Erstens lasse der sich im Erfolgsfall gegen die Zumutbarkeit der Berufsausübung ins Feld führen und zweitens könne er eine etwaige Kürzung des Unterhalts abfedern. Im Sinne der Erhaltung eines moderat begrenzten Lebensstandards in nachehelicher Eigenverantwortung.

Das ist der Stand. Nur was ihren Sohn getrieben hat, in der Schule kleine Kinder zu erpressen, weiß sie immer noch nicht. Zum ersten Mal seit sie am Rehsteig wohnt, hat sie gestern seinen Abschied als Erleichterung empfunden. Ein leeres Haus ist leichter zu ertragen als diese gepresste Stille am Abendbrottisch. All das hat sie sich vorgenommen Weidmann zu erklären, nicht weil es zur Sache gehört, sondern weil es einmal aus ihr herausmuss und sie sicher sein kann, dass er es sich anhören wird, ruhig, mit diesem angedeuteten Nicken.

Aber sooft sie auch daran denkt, sie ruft ihn nicht an.

Der Käse auf dem Toast beginnt zu dunkeln. Auf den Boden des Ofens tropft der Saft der Tomaten. Trocknet und verkrustet.

Im Küchenkalender neben der Tür hat sie den Termin des Elternsprechtags markiert und vermeidet es seitdem, diesen anzusehen. Fragt sich lieber, ob es jetzt schon so weit mit ihr ist, dass sie eine Woche grübeln muss, bevor sie sich abmachungsgemäß bei einem Mann meldet, zu dessen beruflichen Pflichten es gehört, mit ihr ein Gespräch zu führen. Wegen eines einzigen kurzen Kusses vor sieben Jahren?

In der Essdiele klingelt das Telefon, und noch vor dem zweiten Ton hat sie den Hörer am Ohr. Rauschen schlägt ihr entgegen. Zuerst hört sie in unendlicher Entfernung eine Stimme wie aus einem Funkgerät, dann Anitas fröhlich forsches» Hallo?«.

«Ich bin dran«, sagt sie, kälter als sie klingen wollte. Die Uhr über dem Esstisch zeigt genau sieben. Auf der Anrichte beginnen die Veilchen sich über den Rand der Vase zu neigen, in einem Akt graziöser Unterwerfung unter die Herrschaft der Zeit.»Von wo rufst du an? Vom Mond?«

«Fast. Von da, wo demnächst der Mond ins Meer fällt. Und dann fiel mir gerade ein, dass du …«Ihre Stimme verschwindet hinter einem Geräusch, als würde tatsächlich gerade der Mond ins Meer fallen.»Wollte hören, wie’s dir geht?«

«Hörst du aber wahrscheinlich nicht, bei diesem Rauschen. Wo bist du?«

«In Nizza. Wenn du’s mir sagst, hör ich’s doch. «Ihre Stimme klingt aufgekratzt und champagnerlaunig, wie immer wenn sie von weit weg anruft, um Kerstin zu sagen, dass sie von weit weg anruft.

«Gut. «Mit einem Kugelschreiber kritzelt sie auf den Rand des Bergenstädter Boten. Alle Vorstände komplett, meldet die Überschrift in einem kleinen Kästchen auf der ersten Seite. Direkt neben dem Countdown zur Fußball-WM.