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«Wie bitte?«

«Gu-hut.«

«Verstehe. Stör ich dich?«

«Ich mach gerade Abendessen. Wie geht’s dir so? Ist Karl der Große bei dir?«

«Im Geiste, manchmal. Schätzchen, im Sommer fahren wir mal zusammen her, das ist ein Traum mit der Bucht und den Bergen. Ich stehe auf dem Dach von diesem Museum und rundherum badet alles in Licht. Halt dir im September ein paar Tage frei.«

«Klar. «In Anitas Stimme mischen sich schleifende Töne, und Kerstin hält den Hörer ein wenig vom Ohr, während sie die Diele durchquert, die Terrassentür kippt und mit dem freien Ohr Schritte im Zimmer ihrer Mutter hört. Die räumt endlich ihre Frisierutensilien in den Wandschrank. In Nizza badet alles in Licht. Aber zum Baden haben wir hier ja zum Glück die Badewumme, denkt sie.

«Hast du dir endlich eine Putzfrau genommen? Du musst dir öfter mal was gönnen, weißt du.«

«Nämlich? Einer Putzfrau bei der Arbeit zusehen?«

«Du könntest dir in der Zeit die Nägel machen lassen.«

Kerstins Atem bildet einen formlosen Fleck auf der Scheibe der Terrassentür, zieht sich Richtung Mittelpunkt zusammen und verschwindet.

«Tut gut, von dir zu hören«, sagt sie lahm.

«Es tut mir leid, dass ich dieses Jahr deinen Geburtstag vergessen habe. Es war der Tag, an dem wir abgeflogen sind, und ich hab morgens noch dran gedacht.«

«Und dann nicht mehr.«

«Ich mach’s wieder gut. Ein Geschenk hab ich jedenfalls losgeschickt.«

«Danke.«

«Wie geht’s deiner Mutter?«

«Sie ist alt.«

«Grüß sie von mir.«

«Mach ich. Und wenn du was gutmachen willst, dann komm Grenzgang her. Ohne dich bleib ich doch bloß zu Hause sitzen und denke, dass alle sich gerade amüsieren.«

«Ich werd’s versuchen.«

Es ist wie immer: Lange kann sie Anita nicht böse sein. Oder will es nicht. Ist lieber sich selbst böse, weil sie es nicht kann oder nicht will, und sagt sich: Sie ist meine einzige Freundin, ich habe sonst keine.

«Bist ein Schatz. Nein, eigentlich bist du ein Ekel, aber ich stoß heute Abend trotzdem auf dich an. Mit Grauburgunder, falls dir das nicht zu gewöhnlich ist.«

«Wer ist Grauburgunder?«

«Ein Weißwein, Chérie. Hast du früher auch getrunken.«

Es dauert einen Augenblick, bevor Anitas Lachen sich aus dem mediterranen Rauschen löst und ihr in kleinen Wellen ins Ohr schwappt.

«Dass du nie Rotwein trinkst. Na, mal sehen, was mir heute Abend so ins Glas fällt. «Die Art, wie sie es sagt, verrät, dass sie nicht alleine ist, dort in Nizza, sondern dem Abend entgegenblickt wie einem teuren Geschenk, dessen Inhalt sie schon kennt. Sie hat ›wir‹ gesagt und nicht ihren Mann gemeint, und jetzt blinzelt sie in der Abendsonne keck irgendeinen Kerl an, mit dem sie am Abend ins Bett zu fallen gedenkt, in dasselbe, aus dem sie am späten Vormittag aufgestanden ist.

Augenblicklich kehrt Kerstins Groll zurück.

«Weil ich von Rotwein Sodbrennen kriege. Und jetzt muss ich wieder in die Küche.«

«Wir sehen uns bald, ja?«

«Viel Spaß noch in Nizza. «Dann sind Rauschen und Lachen verschwunden, und die Wanduhr zeigt drei nach sieben. Kerstin blättert in der Zeitung, ohne zu lesen, bis ihr Blick auf das Kreuzworträtsel fällt, das ihre Mutter zu einem knappen Drittel gelöst hat, in ihrer immer unleserlicher werdenden Handschrift. Nach der Regenbogenhaut im Auge wurde da gefragt, vier Buchstaben, und ihre Mutter hat geschrieben: B-U-N-T.

«An den Rändern ist er ein bisschen dunkel geworden. Soll ich dir das abschneiden?«fragt sie ihre Mutter, die skeptische Blicke auf das zerlaufene Gebilde auf ihrem Teller wirft und nicht zu wissen scheint, wo sie mit Messer und Gabel ansetzen soll.

«Sechzehn Grad waren’s draußen auf der Fensterbank«, sagt sie stattdessen.»Gestern gab’s noch über zwanzig.«

«Das kommt vor im Mai, so Schwankungen.«

«Bei uns zu Hause wird’s auch geregnet haben, ja. Der arme Hans.«

«Wieso armer Hans? Weil das Wetter schlecht ist?«

«Und dann die Nachtdienste. Früher hat er die Nachtdienste gemacht, ja, und dann noch bei uns Rasen gemäht. Die ganze Wiese am Weiher.«

«Einmal. Einmal hat er das gemacht. «Aber ebenso wie seine Mutter spricht er immer noch davon, als gebühre ihm ein Orden für seinen Einsatz.»Soll ich dir den Toast schneiden?«

«Sind das Tomaten aus unserm Garten?«

«Mutter, es ist Mai. Es gibt noch keine Tomaten bei uns. Und übrigens macht Hans als Chefarzt auch keine Nachtdienste mehr.«

«Ich hab früher immer viele Tomaten gehabt.«

«Nicht im Mai.«

«Kartoffeln auch, Gurken, Zucchini. Kanntest du eigentlich die große Wiese oben bei Schmieds Weiher noch? Da war mehr Sonne als unten, ja. Und samstags kam Schmieds Wilhelm vorbei — wenn der Hans gemäht hat, ja? — und hat gefragt: Wollt’a Eia? Immer so: Wollt’a Eia?«

«Lass deinen Toast nicht kalt werden.«

«Seine Frau ist oft krank gewesen.«

«Ja. Und Schmieds Wilhelm war’s auch, der die Wiese gemäht hat. Ein paar Mal hat Hans ihm geholfen. Ein paar Mal. Nicht so oft wie ich zum Beispiel.«

«Du warst immer weg in Köln.«

Ihre Mutter greift nach dem Besteck und legt es wieder zur Seite, um die Hände zu falten. Unwillkürlich hält auch Kerstin die Hände still, hört sogar für einen Moment auf zu kauen. Am Hinterkopf ihrer Mutter entdeckt sie eine Strähne, die sie vergessen hat einzudrehen.

Draußen ist die Sonne verschwunden, nur in Nizza steht sie wahrscheinlich noch über dem Wasser, zerläuft am unteren Rand und tropft hinter den Horizont. Zeit für das erste Glas Champagner.

Sie sieht ihrer Mutter zu, wie sie sich am Essen zu schaffen macht, mit dem Messer durch Spiegelei, Käse und Tomaten fährt, bis alle Schichten des Toasts sich über den Teller verteilt haben. Dann erst schneidet sie eine Ecke ab, um mit zitternder Hand die Gabel zum Mund zu führen, den Kopf vorgestreckt wie eine Schildkröte. Mit zugerunzeltem Mund, der kein Gebiss zeigt. Nach jedem Bissen legt sie das Besteck ab, wirft einen Blick auf die Pillenbox mit den drei Fächern für morgens, mittags und abends, so als wäre die gerade neben ihr auf den Tisch gefallen. Öffnet den Deckel und schließt ihn wieder. Trinkt sie, bleibt ein Rand an der Tasse zurück, bei allem, was sie tut, scheint sie etwas zurückzulassen, und Kerstin denkt, dass das Alter weder tragisch noch grotesk ist, sondern vor allem eine Hinterhältigkeit der Natur. Und denkt, dass es bedrückend ist, das zu denken, nicht weil es stimmt, sondern weil solche Gedanken den Platz einnehmen, wo etwas anderes hätte sein sollen. Stattdessen dieser Lupenblick, als würde sie Läuse suchen im frisch gewaschenen Haar ihrer Mutter.

«Noch Tee?«Sie überwindet sich, die Hand auf den Handrücken ihrer Mutter zu legen und sich zu sagen, dass sie das keine Überwindung kostet. Sich zu sagen: Es ist schließlich meine Mutter.

«Ich will nicht so oft laufen.«

«Du weißt, was Doktor Petermann gesagt hat: mindestens zwei Liter am Tag.«

«Weißt du noch, wie Schmieds Wilhelm immer zu uns an den Zaun gekommen ist, wenn wir im Garten gearbeitet haben?«

«Ja.«

«Wollt’a Eia? Der hat immer so gefragt: Wollt’a Eia?«

Auf der Küchenuhr zerrinnen die Minuten, draußen fällt der Vorhang. Während ihre Mutter noch isst, räumt Kerstin trockenes Geschirr aus der Spüle. Sie kann diesem Gemümmel nicht zusehen bis zum Ende.

Bei Meinrichs geht die Außenbeleuchtung an und kurz darauf wieder aus, und in der Diele sagt ihre Mutter:

«Sechzehn Grad waren’s auf der Fensterbank.«

Während sie ihre Silhouette im Küchenfester betrachtet, beschließt Kerstin, in den nächsten Tagen ihren Bruder anzurufen, der soll ihr ein paar Tipps geben für den Antrag auf Pflegegeld. Warum immer nur sie? Warum nicht der arme Hans, der seine Mutter genau so lange gepflegt hat, wie sie kein Pflegefall war, und der bei seinen seltenen Besuchen in Bergenstadt gute Laune um sich herum verbreitet wie eine Überdosis zu süßen Parfüms. Ansonsten schippert er am Wochenende mit seiner dritten Frau über den Biggesee. Warum nicht der?