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›Charles B.‹ lautet der Betreff der dritten Mail. Sein falscher Name, so lächerlich wie irgendein anderer, aber das gehört dazu. Man nennt sich anders, gibt sich anders, genießt die Leichtfertigkeit des Virtuellen. Wie Pokern mit Falschgeld, hat ihm mal eine Frau gesagt. In seinem Fall handelt es sich um eine Reminiszenz an das, was er früher gerne gelesen hat und jetzt immer noch mag, aber nicht mehr liest. Er liest immer weniger. Langweilt sich immer mehr.

Sie nennt sich Viktoria und schreibt:

Cher Monsieur,

ich erlaube mir, Sie einen Monsieur zu nennen, weil Ihr Name mir eher ein frz. ›Scharrl‹ zu sein scheint denn ein engl. ›Tschahls‹ und weil ich vermute, dass er aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, als es noch echte Messieurs gegeben haben soll — wiewohl der von Ihnen zum Namensgeber Erhobene allgemein nicht zu ihnen gerechnet wird. Oder täusche ich mich? Heißen Sie am Ende wirklich Charles (so wie ich tatsächlich Viktoria heiße)?

Wenn Sie gestatten, würde ich das gerne herausfinden — Sie brauchen es also nicht gleich zu offenbaren. Es gibt da einen Ort, an dem ein Bohemien wie Monsieur B. sich vielleicht wohl gefühlt hätte. Und Sie auch, wenn Sie denn wirklich so mutig sind wie Ihre Namenswahl zu glauben nahelegt.

Sind Sie mutig, mein lieber Scharrl? Oder wenigstens neugierig? Connais-tu, comme moi, la douleur savoureuse …?

Schreiben Sie mir, und wir werden sehen.

Au revoir,

V.

Weidmann lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als müsste er die Zeilen aus größerer Entfernung betrachten. Vielleicht liest er keine Romane mehr, weil diese Tarnkappen-E-Mails fremder Frauen seiner Phantasie ausreichend Nahrung bieten. Dahinter stehen schließlich Autorinnen, mit denen sich vielleicht schlafen lässt. Jedenfalls gefällt ihm das ›Sie‹. Ihm gefällt eigentlich alles, was er liest, vor allem die Dezenz, die unausgesprochen lässt, was nicht ausgesprochen werden muss. Ist er mutig? Gute Frage, die hat er sich so nie gestellt. Jedenfalls geht ein Kribbeln durch seine Fingerspitzen, und anstatt die Fotos auf ihrer Portalseite anzuschauen, versucht er sich zu erinnern, aus welchem Gedicht die französische Zeile stammt. Nachdem er die Mail drei Mal gelesen hat, schaltet er den Computer aus.

So einfach ist das, wie ein Selbstbetrug mit offenen Augen: Eine Woche lang, vielleicht zwei oder drei, wird der Gedanke an die rätselhafte Viktoria ihn begleiten durch die Unterrichtspausen am Vormittag und die Spaziergänge am Nachmittag. Aus dem Stoff ihrer E-Mails und mit den Mitteln seiner Phantasie wird er sich ein Wesen erschaffen, das verlockend genug ist, um seinetwegen jenen Ort aufzusuchen, von dem sie in ihrer Mail gesprochen hat. Dann ein Treffen, und dann — entweder oder. Früher oder später. Es ist ein Zeitvertreib, mehr nicht.

Das Klingeln des Telefons reißt ihn aus seinen Gedanken. Der Spaziergang fällt ihm wieder ein. Weidmann räuspert sich laut und hebt ab.

«Weidmann.«

«Guten Tag, Herr Weidmann. Werner hier, die Mutter von Daniel. «Sie spricht leise, beinahe schuldbewusst leise. Und er spürt voller Überraschung, wie seine Hände feucht werden.

«Guten Tag«, sagt er.

Sie hat so lange mit ihrem Rückruf gewartet, dass sie ihn schließlich nicht nur mit der Angst vor schlechten Nachrichten anruft, sondern obendrein mit der Befürchtung, seinen Unwillen erregt und damit schlechte Nachrichten provoziert zu haben. Anders formuliert: Sie gibt ihm die Chance, ihre Dankbarkeit zu gewinnen.

«Sie müssen entschuldigen, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.«

«Überhaupt kein Problem, Frau Werner.«

«Es ging nicht eher. «Sie macht eine Pause.»Gibt es Neuigkeiten? Ich meine: Wissen Sie jetzt mehr als in der letzten Woche?«

«Etwas mehr. Wollen Sie’s am Telefon besprechen?«

«Nein. Sehen Sie, ich habe meine Mutter im Haus und muss entweder lange im Voraus planen oder Möglichkeiten ergreifen, wenn sie sich bieten. Gerade habe ich sie zum Arzt gefahren. Ich hatte es vorher schon einmal versucht, es tut mir wirklich leid, dass ich Sie in der Mittagspause anrufe.«

«Ich bin wach.«

«Jedenfalls hätte ich genau jetzt zwei Stunden Zeit.«

«Sehr gut«, sagt er und weiß nicht, ob er das Gleiche auch denkt.

«Ja?«Sie scheint nebenher etwas zu notieren oder hantiert mit einem Gegenstand, oder vielleicht ist es auch nur ihre Nervosität.»Ich hatte befürchtet, dass Sie … Aber gut. Gilt Ihr Angebot noch, bei mir vorbeizukommen? Irgendwann wird die Praxis anrufen, weil meine Mutter geholt werden muss, und man hat dort meine Handynummer nicht.«

«Ich denke, ich mache mich sofort auf den Weg.«

«Vielen Dank.«

«In einer Viertelstunde?«

«Vielen Dank, wirklich. Sie wissen, wo ich wohne?«

«Ich weiß Bescheid.«

Er legt auf mit dem Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, aber er weiß nicht genau wozu. In der Mittagspause anzurufen und ein Treffen auf der Stelle anzuregen fällt aus dem Rahmen des Ortsüblichen, aber dass Kerstin Werner kapriziöse Neigungen besitzt oder ihm die Bedingungen diktieren will, glaubt er nicht. Es kostet sie Überwindung, ihn zu treffen. Sie ist sensibel gegenüber dieser Mischung aus gegenwärtiger Fremdheit und vage erinnerter Intimität. Also hat sie neun Tage lang mit sich gerungen und einfach in einem Moment zum Hörer gegriffen, in dem ihr keine Entschuldigung zur Verfügung stand, das Gespräch noch länger aufzuschieben.

Weidmann wechselt das Hemd, putzt die Zähne und sprüht sich Aftershave aufs Kinn. Sein Blick in den Spiegel kommt wie eine Frage zurück: Ist das nur ein Elterngespräch oder …? Das Grau an den Schläfen reicht bis zu den Koteletten hinab, aber der leichte Bartschatten, den er sich erlaubt, verspricht schwarzen Wuchs, ohne weiße Einsprengsel. Vielleicht würde sich der Versuch lohnen, denkt er. Mit dem Bart.

Zwei Minuten später eilt er die Treppe hinab. Gummistiefel und Kinderfahrräder stehen entlang der Hauswand. Immer häufiger spürt er in letzter Zeit ein merkwürdiges Klopfen im Hals. Oder in der Lunge? Obwohl die Grünberger Straße abends nach elf Uhr so ruhig daliegt wie ein Feldweg, schläft er mit Ohropax. Ärgert sich ein Geschwür in den Magen, wenn Schneiders die Tüte mit Hausmüll einen halben Tag im Treppenhaus stehen lassen.

Er geht die wenigen Meter der Grünberger Straße hinab, dann am alten Landratsamt vorbei den Kornacker hinauf. Nach hundert Metern fällt ihm ein, dass er etwas hätte mitnehmen sollen, wenigstens ein Notizbuch, irgendwas, das nach Schule aussieht, aber er will nicht mehr umkehren. Wenn sie nur zwei Stunden Zeit hat, tut er gut daran, sich zu beeilen.

Connais-tu, comme moi, la douleur savoureuse? Ohne nachzudenken, kommt er auf den Titel des Gedichts: Le rêve d’un curieux. Ist diese Viktoria Studienrätin? Professorin für Französische Philologie? Die Arial-Schrift ihrer Mail deutet er spontan als Hinweis auf einen akademischen Hintergrund und eine Vorliebe für Geradlinigkeit. Wenn sie tatsächlich mit Vornamen Viktoria heißt, kann er die Internetseiten der entsprechenden Fakultäten in Mainz, Frankfurt oder Gießen konsultieren, vielleicht wird er fündig. Und dann? Erlaubt ihm sein geknickter Stolz ein Rendezvous mit einer Lehrstuhlinhaberin? Und was ist das für ein Ort, an dem sie ihn treffen will?

Weidmann spürt Schweiß auf seiner Stirn und verlangsamt den Schritt. Mit Flecken unter den Achseln möchte er Kerstin Werner nicht gegenübertreten. Lieber wäre ihm, er hätte eine ungefähre Idee, was er ihr sagen soll.

Vor sieben Jahren sind sie einander begegnet auf der halben Höhe des Kleiberges. Und dann abends auf dem Festplatz. Vor sieben Jahren! Und was hat sich seitdem geändert? Ist nicht alles stehen geblieben auf halber Höhe, so dass er nicht einmal weiß, ob er sich im Aufstieg oder Abstieg befindet? Steht er sicher oder kommt er ins Rutschen? Ist der Berg, während er damit beschäftigt war, sich in den Fels zu krallen, um nicht abzustürzen, über ihm gewachsen? Er blickt über den Ort und das Lahntal, auf die weißen, im Sonnenlicht fast unsichtbaren Wolken über dem Waldrand und denkt: Genau das. Er ist stehen geblieben und der Berg gewachsen, und jetzt ziehen Schatten herauf, kommen langsam näher, und an schlechten Tagen spürt er schon die Kälte an den Füßen.