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Je länger er sie und ihren Mann beobachtete, desto sicherer war er, dass die glücklichen Tage ihrer Ehe der Vergangenheit angehörten. Schon am Frühstücksplatz hatte er das gedacht und jetzt im Festzelt wieder. Sie sprachen miteinander, und sie stritten sich nicht, aber es gehörte nicht viel dazu, um sogar aus der Entfernung diesen Glanz unterdrückter Wut in ihren Augen zu entdecken, und in seinen den kindischen Trotz des ertappten Missetäters. Sie sprachen miteinander, aber sie redeten nicht. Er hatte es oft zu Konstanze gesagt: Niemand, der heiratet, entgeht der Banalität der Ehe.

Wie immer war das Zelt am ersten Abend nicht voll. Nur die Burschen- und Mädchenschaften hatten sich vollzählig eingefunden, standen größtenteils auf den Tischen und sangen mit, was die Kapelle auf der Bühne spielte: Schlager, Volkslieder, Gassenhauer. Männer in Kniebundhosen und mit Filzhüten auf dem Kopf, Frauen in Dirndl-ähnlichen Kleidern, mit Haarreifen im Haar, alles Ton in Ton. Und jung waren die meisten, Weidmann sah kaum Gesichter über dreißig. Gerade ging ein Lied zu Ende in schütterem Applaus. Bei den Männergesellschaften blieben viele Tische frei, und vor dem Ausschank entlang der hinteren Zeltwand herrschte nur mäßiger Betrieb. Weidmann stand gegen einen Zeltpfosten gelehnt, hatte gerade einen alten Klassenkameraden abschütteln können, noch bevor der mit der Aufzählung sämtlicher Kinderkrankheiten seiner drei Töchter zu Ende gekommen war, und blickte hinüber zur Männergesellschaft Rheinstraße. Schulrektor Granitzny, in der strammen Uniform des Führers, schob seinen Bauch von Tisch zu Tisch und prostete den Anwesenden zu. Es war kurz vor neun, und die Stimmung im Zelt folgte dem Takt der Musik: brodelte auf beim Refrain, flachte ab während der Strophen und sackte in sich zusammen, wenn das Lied endete. Blaue Tabakschwaden sammelten sich unter den Deckenstrahlern.

Die Kapelle spielte den Tusch, der die Pause einleitete.

«Ihr seid’s suppa«, ließ der Kapellmeister die Anwesenden durchs Mikrofon wissen. Ihm antworteten eine Rückkopplung und hier und da rhythmische, aber unverständliche Sprechchöre; irgendwas mit ›suppa‹.

Kerstin Bamberger erhob sich von ihrem Platz, winkte denen zu, die in der Nähe saßen und machte eine Geste, die halb aus Entschuldigung, halb aus Abwinken bestand. War ein langer Tag. Mein Sohn muss ins Bett. Bis morgen dann. Weidmann leerte sein Glas und stellte es neben sich auf einen freien Tisch. Ihren Mann bedachte sie mit einem Nicken und einer kurzen Bemerkung, keiner Berührung, soweit das aus dreißig Metern Entfernung zu erkennen war.

Er hatte viel, aber nicht übermäßig getrunken; hatte getrunken mit der Beständigkeit des Grenzgangsfestes, in dessen Verlauf man immer ein Glas Bier in der Hand hielt. Seine Beine waren schwer, an den Füßen hatte er sich Blasen gelaufen, und seine Finger kamen ihm geschwollen vor, rosig von gestautem Blut. Er war weder betrunken noch nüchtern, eingehüllt in einen Alkoholnebel, der ihm klares Denken zwar erlaubte, ihn aber nicht dazu zwang. So konnte er tun, ohne wollen zu müssen, konnte einen Fuß vor den anderen setzen, ohne ein Ziel zu haben, während um ihn herum das Festzelt unter der fehlenden musikalischen Beschallung zu summen begann wie ein Bienenkorb. Hier und da erklangen Hochrufe oder Schlachtgesänge, nahmen kurz die Aufmerksamkeit in Anspruch und entließen sie wieder in die Weite des Zeltes. Überall verlebte, begeisterte, stolze Gesichter, eine Grandezza eigener Art waberte durchs Zelt, ein Sinn für Zugehörigkeit, so als hätten sie gerade alle aus den Händen des Bürgermeisters das Bergenstädter Verdienstkreuz am seidenen Faden erhalten.

Kerstin Bambergers dunkelblonder Zopf entschwand durch den Ausgang nach draußen und begann nach links und rechts zu schwingen, jeweils in die Gegenrichtung ihrer Blicke. Wahrscheinlich hielt sie Ausschau nach ihrem Sohn.

Rötliche Wolkenfetzen hingen am Himmel, sahen aus wie aufgewühlt und eingefroren über stahlblauer See. Das letzte Licht des Tages strich gerade die Segel. Um Weidmann herum blitzten Neonlichter in die einsetzende Dunkelheit. King Kong verschluckte eine Gondel mit kreischenden Halbwüchsigen. Trockeneisnebel sorgte für Verkehrschaos auf einer tennisplatzgroßen Fahrfläche, und nebenan im Kettenkarussell versuchten verliebte Pärchen mit ausgestreckten Händen der Fliehkraft entgegenzuwirken. Vergeblich. Discomusik und die lockenden Ansagen aus den Kassenhäuschen erzeugten zuckende Bewegung in der Luft. Es roch nach gebrannten Mandeln, Grillgut und chemischen Toiletten.

Er blieb stehen, wollte angewidert sein von dieser Szenerie dörflichen Amüsements und schaffte es nicht. Brachte gerade mal ein abschätziges Hochziehen der Mundwinkel zustande, das man ebenso gut für ein Lächeln hätte halten können. Zu lau war der Abend, zu sanft und fern der verlöschende Himmel. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, musste er sich eingestehen, in diesem Augenblick nirgendwo anders sein zu wollen. Kerstin Bamberger stand einige Meter entfernt von ihm, eine dunkle Silhouette inmitten der Neonlichter. Mit den Händen zog sie ihren Zopf fest, ohne die suchende Bewegung ihres Kopfes zu unterbrechen. Am Morgen, auf dem Weg den Kleiberg hinauf hatte er versucht, den Status quo zu bestimmen, seine exakte Position am Kap der verlorenen Hoffnung. Nun ließ er sich treiben und hielt auf den dunkelblonden Zopf zu, der wie eine Boje in der Menge schwamm. Groß gewachsen war sie, sportlich und mit einer gewissen beiläufigen Grazie, ihrer Ausbildung durchaus angemessen, auch wenn sie, wie sie es am Frühstücksplatz formuliert hatte, schon Ewigkeiten nicht mehr aktiv war, sportmäßig.

«Hallo«, sagte er.»Sie sind ja doch noch gekommen.«

Sie drehte sich um, und es war das Fehlen von Überraschung in ihrem Blick, das ihm versicherte, sie habe im Lauf des Abends an ihn gedacht. Stattdessen ein Lächeln, das an Verbindlichkeit grenzte. Vielleicht hatte sie sogar den Hals gereckt im Festzelt, hatte zum Rehsteig hingesehen, dem er zwar nicht offiziell angehörte, wo er sich aber inoffiziell zugehörig fühlte, oder so ähnlich hatte er es ihr gesagt. Aus alter Familientradition, sein Vater sei schließlich auch mal … (Pause, Lächeln, Schulterzucken) Führer gewesen.

«Mein Sohn hat drauf bestanden. Wie geht’s Ihren Füßen?«

«Danke, im Sitzen geht’s.«

«Immerhin haben Sie jetzt andere Schuhe an.«

«Wo ist Ihr Sohn?«

Sie schien dankbar zu sein für die Gelegenheit, ihren Blick schweifen zu lassen. Und er ebenso: Sie hatte einen schlanken Hals und stand kerzengerade, mit vor der Brust verschränkten Armen. Einen mitgebrachten Pullover hielt sie wie einen Muff um die Hände gewickelt. Etwas Angestrengtes sprach aus ihrer Haltung, ein Bemühen, so gerade zu stehen und den Kopf oben zu behalten.

«Wenn Sie neun wären, ein Junge von neun Jahren — wo wären Sie jetzt?«

«Autoskooter. «Nach all den Grübeleien der letzten Tage fühlte es sich wie eine Erlösung an, diesen einfachen männlichen Gedanken zu denken: Da ging was. Sie würde sich zwar nicht mit ihm in die Büsche schlagen zu einem hastigen Ehebruch im Stehen, aber diesseits der Grenze gab es einen Spielraum, den sie zu betreten bereit war, das spürte er genau.

«Begleiten Sie mich?«

Am Frühstücksplatz hatte er das Gefühl gehabt, seine Anwesenheit behage ihr nur während der Abwesenheit ihres Sohnes; sobald der kam, um von seiner Cola zu trinken oder ihr sein neuestes Abzeichen zu zeigen, war sie ihm entgegengegangen, weg von dem fremden Mann, der etwas abseits an der Böschung saß und den trotzdem skeptische Kinderblicke getroffen hatten. Jetzt ging sie los, ohne seine Antwort abzuwarten.