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Thomas Weidmann brauchte nicht lange, um die Vergeblichkeit seines Tuns einzusehen. Seine Griffe, Küsse, der Druck seiner Lenden, es ließ alles zugleich an Intensität nach, und als zum zweiten Mal seine Hand über ihre Brust fuhr, hatte sie nicht einmal mehr das Gefühl, ihn abwehren zu müssen. Als hätte das Fehlen ihrer Erregung die seine einfach erstickt. Kurz bevor die Lippen sich lösten, fand sie den Kuss zum ersten Mal schön.

Hat gar nicht weh getan, dachte sie albern, als es vorbei war. Sie hielt seinen Kopf mit beiden Händen und hätte ihm beinahe einen Kuss auf die Stirn gegeben.

Bedeutet das, dass ich monogam bin, fragte sie sich. Seinen Rückzug, das Sinken seiner Arme beantwortete sie mit einem festen Griff um seine Taille. Er war angenehm groß, größer als Jürgen, beinahe hätte ihr Kopf unter sein Kinn gepasst.

«Was genau soll ich jetzt tun?«fragte er.»Mich entschuldigen?«

Sie nutzte ihr Kopfschütteln, um sich enger in die Umarmung zu nesteln. Nach dem Grenzgang, hatte er erzählt, musste er sofort zurück nach Berlin, und sie wünschte, dies wäre der dritte Tag des Festes und nicht der erste und sie könnte ihm gleich einen letzten Kuss geben, im Wissen, ihn nie wiederzusehen. Unentschlossen legten sich seine Hände auf ihren Rücken. Sie hätte gerne getanzt jetzt, langsam und müde, aber sie wollte nicht kitschig werden.

Die zweite Runde Autoskooter, mahnte eine innere Stimme.

«Nur einen kurzen Moment noch, wenn’s Ihnen recht ist. «Sie war überrascht von dem plötzlichen Bedürfnis, an Weidmanns Schulter gelehnt einzuschlafen. Noch einmal drückte sie ihn an sich, dann ließ sie los. Er zuckte die Schultern, zupfte an seinem Hemd, sah ihr nur kurz ins Gesicht. Im Schilf schnatterte eine Ente. Die schwarze Farbe des Flusses sah aus wie eine Ölschicht, die auf der Oberfläche trieb.

Sie sah zum Festplatz, aber da zeigte sich niemand im bunten Gegenlicht des Rummels. Halb zehn war die Zeit, da niemand mehr kam und noch niemand nach Hause ging.

Es gab keine Zeugen, also war nichts passiert.

«Ich weiß nicht, wo Sie wohnen«, sagte Weidmann hinter ihr,»aber ich nehme an, wir haben nicht denselben Heimweg.«

«Nein. «Sie drehte sich um. Weit hinter ihm leuchtete eine einsame Laterne neben einer leeren Bank. Da war bereits zu viel Raum zwischen ihnen für eine letzte Umarmung.

«Dann auf Wiedersehen.«

«Gute Nacht. «Sie sah ihm nicht nach, sondern trat aus dem Dunkel der Trauerweiden hinaus auf die Wiese und richtete ihre Bluse. Von der anderen Seite der Lahn betrat jemand die Brücke, und sie ging mit verschränkten Armen hin und her, wie auf einem leeren Bahnsteig. Atmete tief durch. Den ersten Tag hatte sie geschafft. Nicht mit Auszeichnung, aber geschafft. Ein Lächeln im Gesicht und einen Gruß auf den Lippen, drehte sie sich schließlich um, als die Schritte hinter ihr näher kamen. Für eine Sekunde erwartete sie Weidmann auf sich zukommen zu sehen, dann knallte Daniels Blick ihr mit einer Wucht ins Gesicht, die sie ins Taumeln brachte.

Er stand genau da, wo sie Weidmann zuletzt gesehen hatte, in der Mitte der Brücke. Sein Kopf lag im Schatten, so dass sie den Blick gar nicht sehen konnte, der sie so plötzlich traf. Nur die nackten hellen Waden unter seinen Bermuda-Shorts und die Unterarme, wo das T-Shirt endete. Dann die Augen und danach erst das Fehlen kindlichen Zorns, den sie instinktiv erwartet hatte. Trotzdem konnte sie nichts sagen. Wie gelähmt stand sie auf der Wiese, fühlte ihr Herz schlagen und ein riesiges Netz auf sich niedersinken, mit so feinen Maschen, dass nichts ihm entging.

* * *

«Also, um ehrlich zu sein …«So schwer es ihr fällt, sie zwingt sich, die Verschränkung ihrer Arme zu lösen.»Ich weiß nicht, was für ein Verhältnis mein Sohn zu seinem Vater hat. Wir sprechen darüber nicht.«

Dann nimmt sie die Arme wieder hoch.

«Und wenn Sie wissen wollen, was für ein Verhältnis ich zu meinem Sohn habe — das weiß ich auch nicht, denn darüber sprechen wir ebenfalls nicht.«

Ohne den Schutz ihrer Arme lässt sich dergleichen einfach nicht sagen.

«Aber ziehen Sie daraus bitte keine falschen Schlüsse. Mit Sechzehnjährigen ein Gespräch zu führen, das ist …«Sie deutet ein Nicken an und holt tief Luft und findet, dass ihre Lippen schmal und blutleer wirken, wenn sie sie aufeinanderlegt.

«Sie können mir vorwerfen, meinen Sohn zu sehr zu lieben. Ich weiß, dass es das gibt, und vermute, ein solcher Fall liegt hier vor. Aber wissen Sie, dass man viel seltener eine Wahl hat als das Gefühl, man hätte sie?«

Das war immerhin schön gesagt.

«Sie haben keine Kinder, nicht wahr? Seien Sie … nein, seien Sie’s nicht. Vergessen Sie’s einfach«, flüstert sie, das Gesicht so nah am Badezimmerspiegel, dass eine milchige Blase ihren Mund auszuradieren scheint. Mit beiden Zeigefingern fährt sie vom Ansatz der Nasenwurzel nach außen, unter den Augen das Jochbein entlang. Falten-Prophylaxe, ein Tipp aus der Brigitte. Für den Fall, dass Weidmann ihr Bad benutzen will, hat sie die über dem Heizkörper hängende Wäsche abgenommen und mangels einer anderen Gelegenheit in die Kommode unter dem Waschbecken gestopft. Jetzt kommt der Raum ihr nackt vor. Den weißen Lack der Heizung verunzieren dunkle Streifen, und auch die Kacheln darunter wirken angegriffen, abgenutzt, alt. Die Fensterbank tut vergebens so, als wäre sie aus Marmor.

Bitte auch daraus keine falschen Schlüsse zu ziehen, denkt sie.

Den Plastikbecher mit Deckel, in dem nachts das Gebiss ihrer Mutter sein Corega-Bad nimmt, hat sie im Spiegelschränkchen verstaut und holt ihn jetzt mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wieder hervor. Wozu so tun als ob? Und als ob was? Ihr Blick fällt auf den kleinen austernförmigen Flakon, dessen Glas selbst im Dämmerlicht ihres Bades seltsam zu funkeln scheint in seinem hellen, transparenten Gelb. Eine dieser exklusiven Marken, deren Namen sie vor dem Auspacken der Postsendung nie gehört hat. Der Gegenwert von Anitas schlechtem Gewissen. Mit einer schnellen Bewegung nimmt sie den Flakon in die Hand. Angenehm schweres, geriffeltes, weich gerundetes Glas. Nicht kühl, nicht warm liegt es in ihrer Handfläche. Sie zieht den Verschluss ab, hält ihn sich vor die Nase. Schnuppert.

Die Gemeinheit.

Ein Landstrich in Küstennähe, wo die Luft schwer ist von Lavendel und das Licht bernsteinfarben am Abend. So fühlt es sich an, nach dem Bad in ein Sommerkleid zu schlüpfen, mit Wasserperlen auf der Haut. Schlicht wie Baumwolle, kostbar wie Jugend, es ist ein Betrügerduft, der so tut, als könnte man sich einfach wieder auf die Haut sprühen, was das Leben längst abgetragen hat. Für sich selbst hätte Anita das nie gekauft, sie mag nichts flüchtig Sanftes, sondern bevorzugt Düfte, die die solide Unbescheidenheit des Reichtums atmen, dessen Perlen nicht aus Wasser und dessen Kleider nicht aus Baumwolle sind. Also hat sie eine Parfümerie aufgesucht und sich beraten lassen. In Nizza gibt es sicherlich Geschäfte, wo wenige Stichworte genügen, um eine Vorstellung von jener Madame Kerstin zu entwickeln und zu wissen, welcher Duft ihr am besten steht. Ein Bild nach Anitas Vorstellung, ein Mosaik aus wohlwollenden Lügen, so betrügerisch wie der Duft, der schließlich auf ein Probenschildchen gesprüht und mit geübter Handbewegung in den Raum disseminiert wird. Voilà, nicht wahr, man glaubt die ferne Freundin geradezu vor sich zu sehen in all ihrer schlichten Natürlichkeit. Oder natürlichen Schlichtheit. Sprechen wir’s aus: in ihrer liebenswerten Beschränktheit. Als wäre dieser Duft der Schleier, den sie im Vorbeigehen mit sich gezogen hat.