Выбрать главу

Kerstin stellt den Flakon zurück, klappt den Klodeckel herunter und widersteht dem Drang, sich darauf niederzulassen. Wahrscheinlich ist in der Küche der Kaffee schon durchgelaufen, und Weidmann beginnt sich zu wundern auf der Terrasse. Natürlich kann sie ihm, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, auch das kleine Gästeklo neben der Haustür anbieten, aber erstens ist das kein Gästeklo, sondern Daniels Privatklo, und zweitens muss sie befürchten, dass dieser telefonzellengroße, graubraun gekachelte Raum einen noch schlechteren Eindruck auf ihn macht. Sofern das Äußere eines Menschen Rückschlüsse auf das Innere seiner Wohnung zulässt, muss man sich Weidmanns Bad als gepflegtes Refugium vorstellen, einfach, aber ganz sicher hell, vielleicht mit einer Kaktee genau in der Mitte der Fensterbank oder einem Zeitschriftenbehälter aus Eiche, unauffällig zwischen Toilette und Wand platziert. Und drittens wäre es ihr wie eine Indiskretion vorgekommen, den Klassenlehrer ihres Sohnes in dessen Klo vorzulassen, ihm einen Blick auf die abgenutzte Zahnbürste, den Nivea For Men-Deo-Roller und das Fläschchen Gesichtswasser werfen zu lassen, das mangels Kommode in der Tasche von Daniels Bademantel steckt. Nein, in der gegenwärtigen Situation muss sie einfach hoffen, dass auch die dritte Tasse Kaffee die Blase von Studienrat Weidmann nicht an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt.

«Ich zähl auf Sie«, sagt sie ihrem Spiegelbild und verlässt das Bad.

Von der Küche aus kann sie Weidmann auf dem Gartenstuhl sitzen sehen, die Beine ausgestreckt und trotzdem mit geradem Rücken, also gleichzeitig entspannt und aufmerksam, wenn sie das aus dem Seminar Körpersprache und nonverbaler Ausdruck noch richtig in Erinnerung hat. Er scheint in den Anblick ihres blühenden Hanges vertieft zu sein. Im Gespräch folgen seine Augen manchmal einige Flügelschläge lang einem Schmetterling oder einer der Drosseln in der Kastanie und geben Kerstin Gelegenheit, das Fehlen eines Bauchansatzes und seine gepflegten Hände zu bemerken, aber jetzt steht sie mit dem Steiß gegen die Küchenanrichte gelehnt, sieht dem Kaffee zu, wie er in die gläserne Kanne tropft, und fragt sich, warum eine bestimmte Art von Nervosität sie partout nicht verlassen will. Nach allem, was er ihr gesagt hat, gibt es Gründe, erleichtert zu sein: Ein Verweis von der Schule steht nicht zu befürchten, und so gravierend Daniels Vergehen ist, scheint sein Klassenlehrer nicht bereit zu sein, es als Ausdruck eines zu Gewalt und Gewissenlosigkeit neigenden Charakters zu verstehen. An diesem Punkt ist er ein wenig vage geblieben, offenbar in dem Bemühen, das heikle Thema Familie nicht gegen ihren Willen zum Gesprächsthema zu machen. Auch als Psychologe spielt er sich nicht auf, begnügt sich mit den Fakten und lobt zwischendurch ihren Kaffee, ohne dass es bemüht oder anbiedernd wirkt. Keine noch so versteckte Anspielung auf Festplätze, Lahnbrücken, Heimlichkeiten. Das Gespräch tut ihr gut, sie mag den ruhigen Fluss seiner Rede und die Aufmerksamkeit seines Schweigens und vermutet, dass irgendwo in seinem Familienstammbaum ein paar Pfarrer hocken. Und trotzdem: Sie steht in der Küche, lässt die Minuten verstreichen, ihren Gast auf der Terrasse sitzen und hätte es vorgezogen, an diesem einen halben Nachmittag, den ihre Mutter außer Haus verbringt, alleine zu sein.

So bin ich, denkt sie. Wir müssen damit leben.

— Wer ist ›wir‹?

— Oh, nein, nein, nein! Wer meinen Geburtstag vergisst, bekommt auf solche Fragen keine Antwort.

— Du musst damit leben, glaubst nur du. In Wahrheit müsstest du dein Leben ändern.

— Dreiundzwanzig Jahre kennen wir uns, und ich hab nicht ein einziges Mal deinen Geburtstag vergessen.

– Ä-n-d-e-r-n.

— Als Daniel die Mandeln rausgenommen wurden, hab ich vom Telefon unten im Krankenhaus aus angerufen. Nach Kreta.

— Korfu. Du hast also beschlossen zu schmollen.

— Hab ich nicht. Ich schmolle einfach so.

— Flotter Kerl, da draußen auf der Terrasse. Für Bergenstädter Verhältnisse, anyway. Bin nicht sicher, aber ich glaube, ich hab ihn mal geküsst auf einer Abi-Fete.

— Fragt sich, wer von uns beiden sein Leben ändern muss. Übrigens hab ich ihn selbst mal geküsst und dir nie davon erzählt.

— Schnupper mal, wenn du ihm Kaffee eingießt. Ich tippe auf Yves Saint Laurent. Und apropos, gefällt dir, was ich dir geschickt habe?

— Ist nicht mein Stil.

— Deshalb hab ich’s dir ja geschickt.

Eben! Eben genau das! Oh, womit nach einer Einbildung werfen?!

— Es gibt viele Entscheidungen, die ich nicht mehr frei bin zu treffen, aber wie ich rieche, würde ich gerne weiterhin selbst bestimmen.

— Hör auf zu schmollen, hör auf mich. Du traust dich nicht zu leben, wie du gerne möchtest. Du traust dich nicht mal so zu riechen, wie du gerne möchtest.

Halt den Mund, denkt sie, nimmt die Kanne aus der Maschine und gießt den Kaffee um in die Thermoskanne. Dann geht sie zurück auf die Terrasse und wirft im Vorbeigehen den Veilchen auf der Kommode einen Blick zu, aber die lassen die Köpfe hängen, von denen ist keine Aufmunterung mehr zu erwarten.

«Sie müssen mir verzeihen«, sagt Weidmann.»Ich hatte nicht bemerkt, wie spät es ist. Und wir hatten ja besprochen, was besprochen werden muss. Ich sollte langsam aufbrechen.«

«Geben Sie mir Ihre Tasse«, sagt sie nur.

Kurz treffen sich ihre Blicke beim Einschenken. Sein Rasierwasser besitzt eine herbe Note, aber er hat es aufgetragen, ohne sich vorher zu rasieren, und der Verhandlungsführer in ihrem Kopf begehrt zu wissen, was er gedacht hat vor dem Spiegel.

«In den Garten haben Sie viel Arbeit gesteckt«, sagt er.

Sie nickt und folgt seinem Blick. Seit der Rasen von Daniel nicht mehr zum Bolzen und Toben gebraucht wird, hat sie auch darin kleine Blumeninseln gepflanzt, Stiefmütterchen und Margeriten, die wild und von alleine wachsen, wenn auch nicht in solchen kreisrunden, Blütenform annehmenden Konstellationen. Wahrscheinlich kann ein Mann die Befriedigung nicht nachvollziehen, die von einem unter den eigenen Händen aufblühenden Garten ausgeht, und deshalb macht es ihr auch kein Vergnügen, den Garten mit ihm und durch seine Augen zu betrachten. Da liegt es, das Betätigungsfeld einer Frau mit zu viel Zeit. Denkt er dergleichen? Sie registriert ein Zucken seines Augenlides, das er zu unterbinden versucht durch weites Öffnen der Augen, als würde er sich Kontaktlinsen einsetzen. Jedenfalls vermeidet er es, sie anzusehen.

«Sie arbeiten nicht? Ich meine …«

«Zurzeit nicht. «Sie nimmt ihre Tasse in beide Hände und schlägt die Beine übereinander, entschlossen, sich genau diese Schmach jetzt nicht anzutun und stattdessen eine andere ins Visier zu nehmen.»Sie hätten es ihm auch nicht zugetraut, oder? Meinem Sohn.«

«Nein. Wahrscheinlich sollte ich nach annähernd sieben Dienstjahren wissen, dass Schüler in dem Alter Dinge tun, die man sich nicht erklären kann, aber in Daniels Fall … nein. Ich gebe zu, dass ich es zuerst überhaupt nicht geglaubt habe. Ist das ein Trost für Sie?«

«Wie könnte es? Mein Sohn wächst seit seinem zehnten Lebensjahr in Umständen auf, von denen man nicht annehmen kann, dass sie ihm guttun. Wofür er nichts kann. Und wenn diese Umstände dazu beigetragen haben, dass er das getan hat, was er getan hat, dann liegt es nahe zu sagen, dass er für diese Taten auch nichts kann. Aber das stimmt eben nicht.«

«Darf ich kurz einwerfen, dass Sie mir keine Erklärung schulden.«

«Meine Erklärung läuft darauf hinaus, die Schuld bei meinem Exmann und mir zu suchen, wo sie wahrscheinlich ganz gut aufgehoben ist, aber: Daniel hat das getan. Und sobald ich es mir vorzustellen versuche, kann ich überhaupt nichts mehr erklären. Ich kenne Tommy Endler. Wir waren Nachbarn am Hainköppel.«

Natürlich hat sie überlegt, bei Endlers anzurufen. Jahrelang haben Evi Endler und sie einander über den Zaun gegrüßt und sich Tipps bei der Gartenarbeit gegeben. Haben selbst angebautes Obst und Gemüse getauscht und manchmal einen Plausch gehalten auf der Terrasse, Gespräche über Kinder und Haushalt. Gegenseitiges Blumengießen während der Urlaubszeit, und wenn Herr Endler im Winter Schnee geschaufelt hat, dann immer über die Grundstücksgrenzen hinaus. Nach der Scheidung ist Frau Endler ein Mal am Rehsteig gewesen für einen Nachmittag mit Kaffee, Kuchen und einem Mangel an Gesprächsthemen. (Hübsch haben Sie’s hier, den Satz hat sie sich behalten.) Danach noch ein, zwei Weihnachtsgrüße, dann nichts mehr. Mittlerweile erscheint es fast natürlich, auf die andere Straßenseite zu sehen, wenn sie einander in der Stadt begegnen.