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Weidmann nickt und legt einen Finger auf das zuckende Augenlid, aber als er ihn wieder wegnimmt, sieht sie es immer noch. Dann trinkt er einen Schluck Kaffee und macht mit dem Kopf eine Bewegung, die einen Themenwechsel signalisiert.

«Tanz, richtig?«

«Bitte?«

«Ihr Studium in Köln: Sport, aber mit dem Schwerpunkt Tanz. Ich wusste nicht mehr, ob ich es richtig in Erinnerung habe.«

«Ich weiß jedenfalls noch, dass Sie auch in Köln studiert haben«, nickt sie.

Ohne ersichtlichen Grund beginnt er zu erzählen, und es scheint ihm zwischendurch selbst unangenehm zu sein, wie genau er sich an alles erinnert. Sogar zwei ihrer früheren Kölner Adressen weiß er noch, und dass sie sich damals nicht genau darauf hatten verständigen können, ob sie einander nun bei der Feier zu Anitas fünfundzwanzigstem Geburtstag begegnet waren oder nicht. Manchmal tut er so, als ließe sein Gedächtnis ihn im Stich, aber sie sieht ihm an, dass er nur den Eindruck vermeiden will, er habe seitdem täglich an ihr Gespräch gedacht.

Sie hört ihm zu und versucht ihre Anspannung unter einem Lächeln zu verbergen. Hinter Bemerkungen wie:

«Wissen Sie, wie lange ich gebraucht habe, das Wort ›Sackpfeife‹ ohne kindisches Grinsen auszusprechen?«Dabei findet sie sich selbst kindisch. Warum beobachtet sie jede seiner Regungen, als gebe es etwas jenseits seiner Worte, das sie herausfinden und analysieren muss? Er versucht doch überhaupt nicht, ihr zwischen den Zeilen eine geheime Botschaft zu übermitteln, sondern ist einfach nett und hält das Gespräch in Gang, so lange wie er braucht, um seine Tasse zu leeren, die sie ihm gerade wieder bis zum Rand gefüllt hat.

«Tatsächlich?«

«Ich hab einen Hang zur Albernheit. Ist Ihnen damals vielleicht nicht aufgefallen.«

«Ist es nicht. Aber wie lange haben Sie gebraucht bei Ihrer Adresse am Sülzgürtel?«

«Wahrscheinlich bin ich deshalb so schnell umgezogen. «Sie hört sich lachen und hätte ihm am liebsten die Hand auf den Arm gelegt und gesagt: Wissen Sie, ich bin nicht immer so gewesen. Ich muss mich nur erst wieder umgewöhnen. Mit Frau Preiss hat sie sich vor einigen Tagen angenehm unterhalten, aber von Mutter zu Mutter, über Eltern und Kinder. Am kommenden Samstag ist sie eingeladen bei ihr. Herr Preiss wird bei der Versammlung der Rheinstraße sein, und sie beide haben beschlossen, einen Frauenabend zu verbringen. Soweit es sie selbst betrifft: Den ersten seit Jahren.

«Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis«, sagt sie.»Muss man als Historiker wahrscheinlich auch haben.«

Er schüttelt den Kopf, und da ist etwas in seiner Geste, das sie aufmerksam werden lässt.

«Man würde ja auch nicht jeden Kunstlehrer als Maler bezeichnen, oder? Übrigens war Gedächtnis damals das Thema meiner Arbeit. An der Uni. Historisches Gedächtnis als Medium kollektiver Selbsttäuschung, also sozusagen als institutionalisierte falsche Erinnerung. «Er hält inne und blickt sie mit einem gespielten Stirnrunzeln an.»Man sagt Historikern ja nach, sie seien eher langweilig, und ich fürchte, ich beweise Ihnen gerade, dass das auch für Möchtegernhistoriker gilt.«

«Inwiefern falsche Erinnerung?«

«Jeder kennt das von sich selbst: Das Gedächtnis kann einen im Stich lassen, Erinnerung kann trügen. Und wenn es für einzelne Personen gilt, warum nicht auch für Kollektive? Kollektive Erinnerung könnte ja die Summe individueller trügerischer Erinnerungen sein. Die man sich dann gegenseitig beglaubigt. Nehmen wir an, ich hätte mich getäuscht, und wir sind gar nicht zusammen vor sieben Jahren den Kleiberg hochgewandert. Es war eine andere Person, mit der ich gesprochen habe. Und Sie ebenfalls mit einer anderen. Aber jetzt sage ich Ihnen, dass ich es gewesen sei, und Sie erinnern sich undeutlich, und je mehr ich erzähle, desto überzeugter sind Sie, dass meine Erinnerungen und Ihre zueinanderpassen. Sie nehmen meine als die Bestätigung der Ihren, und ich tue das Gleiche. Aber wir könnten uns beide täuschen.«

Sie benötigt einen Moment, um zu verstehen, warum sie nicht hören will, was er sagt. Zehn Tage lang hat sie mit sich gekämpft und gerungen, hat sich an ihre Mutterpflichten erinnert und sich selbst ermahnt, dass dieses Gespräch notwendig ist und jede Ausflucht unter ihrer Würde. Ein einziger überflüssiger Kuss ist kein Grund für zwei erwachsene Menschen, einander sieben Jahre später nicht in die Augen zu sehen. Und trotzdem hat sie die ganze Zeit daran gedacht und sich geschämt für diese Lächerlichkeit von damals, so als würde die ihr wie ein Knutschfleck aus dem Kragen gucken. Nur damit er jetzt mit dem Finger darauf zeigen und gleichzeitig so tun kann, als wäre da gar nichts. Sein Beispiel für irgendeine gelehrte Idee ist noch taktloser, als hätte er die Begegnung direkt angesprochen.

Weidmann sieht sie an, als erwarte er eine Antwort, aber sie zuckt nur mit den Schultern.

Warum tut er das? Ist es möglich, dass er den Kuss tatsächlich vergessen hat? Oder sich zwar an eine flüchtige Begegnung auf der Brücke erinnert, aber nicht mehr weiß, wen er damals geküsst hat? Plötzlich fällt es ihr schwer, sitzen zu bleiben und die Stille auszuhalten, die sich an seinen Kurzvortrag gehängt hat wie eine Prozession stummer Fragezeichen. Ganz plötzlich erscheint das Undenkbare ihr ausgesprochen wahrscheinlich: Es ist sieben Jahre her, er war alkoholisiert und müde, und sie haben einander seitdem kaum gesehen. Warum sollte die Verbindung in seinem Kopf nicht irgendwann gerissen sein? Für ihn war es schließlich ein bedeutungsloses Vorkommnis an einem bedeutungslosen Tag, und wer weiß, wie viele Frauen er seither geküsst hat.

Soll sie beleidigt oder erleichtert sein?

«Sie hatten Hemd und Sakko an. Und Schuhe, wie kein Mensch sie zum Wandern trägt«, sagt sie schließlich mit einem Trotz in der Stimme, den er wahrscheinlich nicht verstehen kann, der ihr selbst aber anzeigt, dass sie offenbar nicht erleichtert ist.

Er nickt und macht eine Handbewegung, die nichts Bestimmtes bedeutet.

«Der Betreuer meiner Habilitation konnte mit der These auch nicht viel anfangen. Und das war auch schon das Ende der Geschichte.«

«Und dann sind Sie zurückgekommen nach Bergenstadt?«

«Das ist die Ironie der Geschichte.«

«Aber warum sind Sie hiergeblieben?«

In dem kurzen Moment erneuter Stille ist sie sicher, dass jetzt das Telefon klingeln wird, aber das Haus schweigt hinter ihnen aus offenen Fenstern und Türen, und das Licht im Garten nimmt die wärmere Farbe des späten Nachmittags an. Kerstin fährt sich mit den Händen über die Gänsehaut an ihren Waden. Mit Wohlgefallen stellt sie fest, dass er ruhige Augen hat, in einem Ton zwischen Braun und Grün; selbst wenn er nicht zu wissen scheint, wohin er schauen soll, liegt keine Hektik in seinem Blick, sondern die bedächtige Suche eines Menschen, der früher oder später schon wissen wird, was er will.

«Ich frage mich, ob ›Ich weiß es nicht‹ die ehrlichste oder die feigste Antwort wäre. Und ob es möglich ist, beides zu sein.«

«Sie schulden mir — um Sie mal zu zitieren — natürlich keine Erklärung.«

«Ich bin hiergeblieben«, sagt er,»weil sich beruflich die Möglichkeit ergeben hat und weil es sich für eine relativ kurze Zeit richtig angefühlt hat, diesen Bruch zu vollziehen. Ihnen stößt etwas zu, und statt sich dagegen zu stemmen, geben Sie der Veränderung nach, folgen ihr noch ein Stück weiter, als Sie gezwungen worden sind. Letztlich ein Versuch, die Hoheit über das Geschehen zurückzugewinnen, weil Sie am Ende an einem Punkt landen, zu dem Sie aus freien Stücken gelangt sind. Das Maß Ihrer Freiheit sozusagen. Es fragt sich aber, wie lange Sie sich nähren können von dem guten Gefühl, Ihr Schicksal selbst bestimmt zu haben. Oder anders gefragt: Wie lange ist die Halbwertszeit von Stolz?«