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Zum Glück schafft er es, seinen Worten mit einem Lächeln ihr Gewicht zu nehmen, aber Kerstin ist trotzdem froh, als sich in der Diele das Telefon meldet.

«Gute Frage. «Im Aufstehen deutet sie mit dem Finger dahin, von wo das Klingeln kommt. ›Sie‹ hat er die ganze Zeit gesagt, als würde er nicht der Autor seines Schicksals, sondern der Deuter des ihren sein wollen. Kerstin nimmt den Hörer ab und die Mitteilung der Sprechstundenhilfe entgegen, dass ihre Mutter mit der Behandlung fertig sei und abgeholt werden könne.

«Zehn Minuten«, sagt sie.»Gibt es einen neuen Befund, den ich kennen müsste?«Ihre Stimme klingt widerwillig; nicht, als läge ihr das Schicksal ihrer Mutter sonderlich am Herzen.

«Ich denke, das wird der Doktor Ihnen dann sagen. Wenn Sie ein paar Minuten mitbringen.«

«Natürlich. «Sie verabschiedet sich und behält für einen Moment den tutenden Hörer am Ohr. Draußen steht Weidmann mit beiden Händen in den Taschen vor ihrem blühenden Hang und hält die Schultern, als stünde er Porträt. Kerstin legt auf und stellt sich in die Terrassentür.

«Es tut mir leid, aber ich muss los.«

Mit einem Nicken greift er nach seiner Jacke, und sie winkt ab, als er auf das Geschirr deutet.

Im Vorflur kontrolliert sie ihre Handtasche auf Führerschein und Krankenversicherungskarte. Für den Fall, dass Doktor Petermann sie darauf anspricht, wird es Zeit, sich ein paar Sätze zu überlegen, warum Zypiklon ihr noch für eine gewisse Zeit mehr nutzen als schaden kann. Den Hinweis auf das Suchtpotential wird er sich hoffentlich schenken, das kennt sie schließlich besser als er.

«Es bleibt also dabei«, sagt Weidmann von draußen.»Wir sehen uns beim Elternsprechtag. Dann ist die ganze Sache hoffentlich ausgestanden. Wenn Sie bis dahin Fragen haben oder Gesprächsbedarf — jederzeit.«

«Soll ich Sie ein Stück mit dem Wagen mitnehmen? Grünberger, richtig?«

«Ich dreh noch eine Runde oben im Wald. «Sein Kinn weist den Hang hinauf. Wenn alles anders wäre, denkt sie, würde sie ihm jetzt nicht Auf Wiedersehen sagen, sondern sich bei ihm unterhaken und eine Runde um den Rehsteig laufen, Joggern zunicken und mit der freien Hand über die hohen Gräser am Wegrand streichen.

«Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit hatten.«

«Mit Vergnügen«, erwidert er.

Sie steigt in ihr von der Sonne aufgeheiztes Auto, lässt beidseitig die Scheiben herunter und justiert den Rückspiegel, aber die groß gewachsene Gestalt hinter ihr ist bereits abgebogen und außer Sicht. Der Rehsteig liegt verlassen da. Ein paar Wolken stehen still über dem Kamm. In Gedanken folgt sie Weidmann den Kornacker hinauf, den schmalen Pfad hinter den Grundstücken entlang und schließlich — während sie langsam in die andere Richtung rollt — immer tiefer hinein in den verdammten Bergenstädter Wald.

7

«Doch. Steht Ihnen ausgezeichnet. Wie angegossen. «Kerstin hat die Arme vor der Brust verschränkt und tippt mit dem Rand des Sektglases gegen ihre Unterlippe, während sie dabei zusieht, wie Frau Preiss sich von der einen Seite zur anderen dreht und schließlich stehen bleibt, als wollte sie ihr Spiegelbild zum Duell herausfordern.

«Eben, wie angegossen. Und bei meiner Figur ist das vielleicht nicht ganz das Richtige.«

«Es steht Ihnen sehr gut.«

«Spieglein, Spieglein an der Wand: Wo ist meine Taille?«Mit in die Hüfte gestützten Händen wirft Frau Preiss einen skeptischen Blick in den Spiegel. Im orangefarben gedimmten Licht der Wandleuchter sieht ihr Gesicht ein wenig wächsern aus; nicht älter, als sie ist, aber mit dem Hauch eines Schattens unter den Augen, den Kerstin vorher nicht bemerkt hat. Und das schwarze Cocktailkleid, in dem sie steckt, ist in der Tat ein Wagnis, wenngleich das Problem weniger im Bereich der Taille als in den freien Waden liegt. Ein bisschen zu kräftig sind die. Kerstin schätzt Frau Preiss auf knapp über einen Meter sechzig, und würden sie einander besser kennen, hätte sie ihr zu etwas geraten, was ein bisschen mehr rauscht und bauscht und bis zu den Knöcheln reicht. Dazu hohe Absätze und das Wagnis lieber mit dem Dekolleté eingehen, wo die Aktien von Frau Preiss am höchsten stehen. Cocktailkleider dieser knappen Art sind was für große, schlanke Frauen, und Kerstin denkt mit Wehmut an ein ähnliches Modell, das seit Jahren ungetragen in ihrem Schrank hängt. Nur das Kleid steht dir wirklich, das du auch barfuß tragen kannst, sagt Anita immer, und da Frau Preiss zu Vorführzwecken ihre Schuhe abgestreift hat, lässt das Kleid sie so klein und stämmig erscheinen, wie sie nun einmal ist. Was Kerstin ihr aber nicht sagen kann. Auch nicht an einem Samstagabend und bei der zweiten Flasche Sekt.

«Wann findet er denn statt, der Sommerball der Rotarier?«

«In drei Wochen. «Seufzend wendet sich Frau Preiss von ihrem Spiegelbild ab und greift nach dem Sektglas auf dem Sideboard.»Danke für Ihre Geduld jedenfalls. Ich geh mich rasch umziehen.«

Kerstin nickt und folgt einer Reihe flauschiger Läufer ins Wohnzimmer. Hier hat das Licht einen rotbraunen Schimmer, der zu den dunklen Teppichen und der Sitzgruppe aus Hirschleder passt, einer längeren und einer kürzeren Couch und zwei Sesseln, von denen einer durch seine Sitzspuren als Stammplatz des Hausherrn ausgewiesen ist. Auf dem niedrigen Doppelglastisch stehen ein Sektkühler und zwei Platten mit Käsecrackern und Weintrauben, darunter stapeln sich Mode- und Architekturzeitschriften, ein paar Automagazine und ein Heft von Familie & Gesundheit, die aktuelle Sonderausgabe zum Thema Pubertät. ›Krieg der Hormone‹ steht auf dem Titelblatt. Kerstin stellt ihr Glas ab und geht zur Fensterbank, arrangiert schmunzelnd den Flieder so, dass die Enden aller Zweige bis hinab ins Wasser reichen, und sieht nach draußen. Sie wundert sich, dass kein Anflug von Trunkenheit sich regt zwischen ihren sonst so empfindlichen Schläfen.

Von der oberen Seite der Hornberger Straße fällt der Blick fast höhengleich auf die Kuppe des Schlossberges, um dessen Kegel sich die spärlichen Lichter von Bergenstadt verteilen. Rundherum dunkle Wälder, kaum zu unterscheiden vom nachtschwarzen Himmel. Das einzige Licht im Tal, das sie sicher zuordnen kann, gehört zur McDonald’s-Filiale im Industriegebiet, deren Eröffnung der Bürgermeister vor einigen Monaten zum Anlass genommen hat, um in einem Satz die Wörter ›Wirtschaftsstandort Bergenstadt‹ und ›Attraktivität‹ so nahe beieinander unterzubringen, dass der Eindruck entstehen musste, es gebe da einen Zusammenhang. Außerdem erkennt Kerstin das Altenheim am unteren Ende der Bachstraße, das höchste Gebäude im Ort, zwei Stockwerke höher als die Sparkasse schräg gegenüber. Irgendwo da unten tummelt sich Daniel in der zweifelhaften Gesellschaft organisierter Trinkfreudigkeit und hoffentlich ohne das Bedürfnis nach einer weiteren Demonstration missverstandener Männlichkeit.

Das Heim der Preissens strahlt Wärme und Gediegenheit aus, verrät einen Sinn für Farben und den gelegentlichen Hang zum touch too much, kurz: Das Haus ist so eingerichtet, wie Frau Preiss sich kleidet. Wohlstand der harmonischen Art füllt die Räume, nicht von allem das Neueste und Beste, sondern was sich bewährt hat im Lauf der Jahre, was Gefallen erregt und Vertrauen erweckt und dann gekauft wird, ohne aufs Preisschild zu schauen. Kein Luxus, der den Verdacht aufkommen lässt, hier werde ein Ersatz gesucht für innere Leere. Keine Polstermöbel, auf denen sich weicher schweigen lässt.