Выбрать главу

Sie fühlt sich so lala. Ist nicht ganz sicher, was sie hier soll. Würde gerne entspannter sein, als sie ist.

Zurück am Tisch gießt sie sich einen Schluck Sekt nach, sieht das Licht in der Küche anspringen und kurz darauf Karin Preiss im hellen Hosenanzug von vorher durch den verglasten Durchgang kommen, der Wohn- und Essbereich voneinander trennt. Außer ihrem Glas hat sie eine Flasche Rotwein in der Hand und hält Kerstin das Etikett entgegen wie eine Polizeimarke.

«Wenn’s Ihnen recht ist, machen wir den mal auf. Bei so viel Sekt denk ich sonst noch, es wär Silvester.«

«Gerne.«

«Werden Sie an Silvester auch immer so sentimental?«

«Manchmal. «Sie hält das für keine sehr taktvolle Frage an die Adresse einer alleinstehenden Frau, aber sie beginnt sich an Frau Preiss’ gelegentliche Gedankenlosigkeiten zu gewöhnen. Verglichen mit Anitas subtilen Gemeinheiten richten die ohnehin nur geringen Schaden an. Sie ist immer noch sauer wegen des Parfüms. Jedes Mal steht sie im Bad und muss sich verbieten an dieser Sommerlandschaft aus Duft und Versprechen zu riechen. Und jedes zweite Mal bricht sie das Verbot. Ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich das verlogene Gemisch auf die Haut stäuben wird.

«Ich immer«, sagt Frau Preiss.»All die Jahre, die Zeit und der Alkohol natürlich, würde mein Mann sagen. Ich hab sowieso nah am Wasser gebaut, immer schon, und wenn ich was trinke … Das sag ich jetzt auch, weil es erst halb elf ist und Sie möglicherweise noch Zeugin werden meiner Tendenz zur Rührseligkeit. Können Sie das Ding hier bedienen?«Zusammen mit der Flasche reicht sie Kerstin einen metallenen Korkenzieher, der fast genauso schwer ist wie die Flasche selbst.

«Also rührselig wirken Sie auf mich nicht, aber wir können gerne Tee trinken zwischendurch. Ich bin den Alkohol auch nicht mehr gewohnt.«

«Kommt nicht in Frage. Der freundliche Portugiese hier ist zehn Jahre alt, der hat lange genug auf seinen Auftritt gewartet. «Frau Preiss greift entschlossen nach einem Cracker und sieht Kerstin beim Öffnen der Flasche zu.»Irgendwie machen Sie in allem einen sehr patenten Eindruck, wenn ich das sagen darf.«

«Und wissen Sie auch, woher das kommt?«

«Nein, ich … doch. «Frau Preiss hebt eine Hand und nickt einsichtig.»Sehen Sie, ich bessere mich, ich versuche es zumindest. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie auch vorher schon so patent gewesen sind, schon immer wahrscheinlich. Ist schließlich eine Frage der Persönlichkeit.«

«Ich hab auch vorher schon alleine gewohnt. Als Studentin. Oder nicht alleine, aber jedenfalls ohne Mann. «Mit einem Plopp öffnet sie die Flasche und stellt sie auf den Tisch, beginnt den Korken aus dem Öffner zu drehen.

«Sie haben studiert?«

«In Köln.«

«Kein Witz?«

«Lang, lang ist’s her. Sportwissenschaft, mit dem Schwerpunkt Tanz.«

«Bis zum Abschluss?«

Kerstin nickt und kann nichts tun gegen das Gefühl von Stolz, das in ihr aufwallt. Will auch nichts tun dagegen. Sie besitzt ein Diplom. Nicht, dass sie je etwas draus gemacht hätte, aber das ist ein anderes Thema, und an der Tatsache ändert es nichts. Es steht sogar ein ›Sehr gut‹ drauf.

«Ich bin baff. «Einen Moment lang sieht Frau Preiss sie aus großen Augen an. Perfekt aufgetragener Lidschatten im selben silbrig schimmernden Kobaltblau wie ihre Ohrringe. Schließlich steht sie auf und holt zwei Weingläser aus einer hölzernen Vitrine, die mit der unbekümmerten Hässlichkeit des Familienerbstücks aus der restlichen Einrichtung hervorsticht.»Obwohl auch das zu Ihnen passt. Und Köln gehört sowieso zu meinen persönlichen Lieblingsstädten. Können Sie mir sagen, warum Leute zum Einkaufen nach Frankfurt fahren? Außerdem, so schlecht wie alle sagen, schmeckt Kölsch gar nicht.«

«Trinkbar.«

Frau Preiss füllt die Gläser bis zum Rand, schiebt eins in ihre Richtung, hebt das andere und sagt:»Zum Wohl. Ich finde, wir hätten uns schon viel früher treffen sollen, aber in Bergenstadt bewegen sich die Dinge eben nur in den Grenzgangsjahren. Die sieben Jahre dazwischen …«Sie schnippt mit den Fingern.

«Wir sind mal zusammen essen gewesen, wenn ich mich richtig erinnere. Zu viert.«

«Und wissen Sie, was ich damals gedacht habe: Sie ist ihm überlegen. Wirklich, war mein Eindruck. Irgendwie menschlich überlegen.«

«Das war klug beobachtet. Hatten wir jetzt schon getrunken?«

«Nein. Tun wir sofort.«

«Zum Wohl denn also. «Kerstin unterdrückt einen plötzlichen Drang zu kichern, nimmt ihr Glas und trinkt es zur Hälfte aus. Ein Aroma von Trauben, Feigen und einem Hauch von Zimt breitet sich aus in der Mundhöhle und kitzelt ihre Geschmacksnerven. Alles so angenehm voll und rund, dass sie nach dem Absetzen des Glases einen Moment lang mit dem Ausatmen zögert. Trauben, Feigen, Zimt — ist alles noch da.

Auch Frau Preiss blickt auf ihr Glas, als hätte daraus ein Geist zu ihr gesprochen.

«Na, heiliges Öchsle, würde mein Mann sagen. Der hat aber Charakter.«

«Das will ich meinen. Da haben sich zehn Jahre des Wartens mal wirklich gelohnt.«

«Und apropos: Finden Sie, dass ich meinen Mann zu häufig erwähne?«

«Apropos was?«

«Im Allgemeinen: Würde mein Mann sagen, hat mein Mann gesagt, wie ich meinen Mann kenne und so weiter. Mir scheint, ich sage das dauernd. Als ich bei Ihnen war neulich: Der Wein muss atmen, würde mein Mann sagen. Ist mir sofort aufgefallen, aber ich sage es immer weiter. «Eine seltsame Intensität liegt in Frau Preiss’ Blick, so als würde sie jedes Wort vor sich sehen, das sie ausspricht.»Warum sag ich nicht einfach: Der Wein muss atmen. Der Wein hat Charakter. Warum zitiere ich meinen Mann?«

«Ich will ja nicht unverschämt sein, aber da Sie es eben selbst erwähnt haben: Nähern wir uns schon dem Wasser?«Kerstin versucht ihren Unwillen hinter einem Lächeln zu verbergen. Gespräche über Eheprobleme sind das Letzte, wonach es sie verlangt.

«Nein, entschuldigen Sie. In letzter Zeit hab ich plötzlich diese Anfälle von Selbstüberwachung. «Karin Preiss lacht, stellt das Glas ab und kneift sich mit Daumen und Zeigefinger in die Stirn.

«Wenn Sie weiter drauf achten, sind Sie die Angewohnheit bald wieder los. Mir ist es sowieso nicht aufgefallen. Aber wenn Sie möchten, sage ich ab jetzt jedes Mal Piep, wenn Sie Ihren Mann erwähnen.«

«Aber bitte nur, wenn wir alleine sind.«

«Natürlich. Und kann es sein, dass es sehr warm ist hier drin?«

«Ja.«

Einen Moment lang sehen sie einander an, als wüssten sie bereits, was kommen wird.

« …würde mein Mann sagen. «Sie sagen es genau gleichzeitig, halten kurz inne, dann entgleisen mit der Synchronität von Spiegelbildern ihrer beider Gesichtszüge.

Zwischen den Schläfen, wo sie Minuten zuvor noch das Gefühl der Trunkenheit vermisst hat, spürt Kerstin jetzt das Echo leichter Trommelschläge. Ein beständiges Ha-ha-ha. Es hat einen Zug ins Hysterische, aber sie lacht einfach darüber hinweg. Lacht die Befangenheit des Abends aus sich heraus. Mit Anita war es manchmal so, Anita stößt spitze Schreie aus, wenn sie lacht, das ist in der Öffentlichkeit oft peinlich gewesen, aber jetzt wünscht Kerstin, sie selbst würde noch viel lauter und heftiger lachen. Wie damals. Für einen Augenblick fühlt es sich tatsächlich an wie das Weiterlachen nach einer Pause, die ebenso arm an Bedeutung scheint, wie sie reich an Jahren ist. Sie kann nicht aufhören. Sie will nicht. Hinter einem Tränenschleier sieht sie Frau Preiss die Beine anziehen, sich eine Hand auf den Bauch halten und mit der anderen durch die Luft wirbeln, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Sie hört ein Japsen und das quietschende Entweichen von Luft aus gepressten Lungen. Daniel hat als Baby so ein Lachen gehabt, und sie hat an sich halten müssen, ihm auf dem Wickeltisch nicht in einem fort den Bauch zu kitzeln, weil sie nicht genug kriegen konnte von diesem Geräusch und der rudernden Bewegung seiner Arme. Wann hat sie ihren Sohn zuletzt lachen gesehen? Ihre Mutter? Sie dreht sich auf die Seite, und dann muss sie sich anstrengen, ihre Bauchmuskeln stillzuhalten, durch die ein stechender Schmerz fährt, während vor ihr aufsteigt, was Karin Preiss ›das Wasser‹ genannt hat. Das Wasser, das ihr schon in den Augen steht und über die Wangen rinnt und das sie hastig wegwischt, als ihr Atem sich endlich beruhigt.