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Ihre Kehle fühlt sich an, als hätte sie Sand getrunken.

«Luft. «Mehr bringt Frau Preiss eine Minute lang nicht heraus. Dann und wann ein Schnauben und zwischendurch ein aufflackerndes Lachen.

Eine seltsame Intimität der Erschöpfung hängt über der Polstergarnitur des Preiss’schen Wohnzimmers. Etwas Zerwühltes, schwitzig auf der Stirn und unter den Armen. Kerstin holt Luft.

«Huh. So habe ich lange nicht gelacht. «Sie liegt mehr auf dem Sessel, als dass sie sitzt, aber solange Karin Preiss sich nicht aufrichtet, fühlt sie sich auch nicht verpflichtet, Haltung anzunehmen.

Könnte Thomas Weidmann sie so sehen, was würde er denken? In Gedanken nennt sie ihn Thomas, nicht Herr Weidmann, aber vor allem denkt sie, dass er sich an der hysterischen Note ihres Lachens gestört und innere Unsicherheit als Ursache angenommen hätte. Sie legt sich eine Hand auf die Brust und schließt die Augen. Es ist beinahe witzig, wie sie immer wieder auf ihre eigenen Hintergedanken stößt. Wie bei Hase und Igel, bloß dass sie nicht nur der Hase ist, sondern auch beide Igel. Und sie geht in jeder ihrer Rollen so sehr auf, dass sie immer nach jemand anderem sucht, den sie für dieses Gefühl des Betrugs verantwortlich machen kann, das die einzige Konstante in dem ständigen Rollenwechsel bildet. Für einen kurzen erschöpften Augenblick, während sie auf dem animalisch nach Hirschleder riechenden Sofa der Preissens liegt, durchschaut sie das Dilemma, dann richtet sie sich auf und sagt:

«Ich muss rasch ins Bad. «Ihre Bluse klebt unangenehm auf der Haut.

«Vorne links«, ruft Frau Preiss ihr hinterher. Vor dem riesenhaften Spiegel stehen noch ihre abgelegten Schuhe.

Kerstin findet die Tür und schließt sie hinter sich.

Ein Dimmer auch hier, der den grün gekachelten Raum in ein Licht hüllt, wie es in dunklen Zimmern aus Aquarien dringt. Aus einer flachen Tonschale mit Duftkräutern strömt das Aroma von Vanille und Salbei, mischt sich mit Rückständen von Seife, einem blumigen Frauenparfüm und dem moschusartigen Duft von Rasierwasser. Kerstins Vorsatz, das Bad nicht in Augenschein zu nehmen, scheitert an der Phalanx von Fläschchen, Flakons, Tuben und Döschen, die sich über dem Doppelwaschbecken auf einem Glasbord reihen, an der weiß blitzenden Badewanne und dem schwarzen Bademantel über der Lehne eines Korbstuhls. Der Bademantel trägt auf beiden Ärmelenden die Initialen KP. Linda scheint ein eigenes Bad zu besitzen, jedenfalls deutet nichts in diesem Raum auf die Benutzung durch einen Teenager. Alles wirkt gediegen und sauber, kein Altersschatten auf den Armaturen, kein Vergleich mit dem Bad, das sie notgedrungen zum Vergleich heranzieht. Ein eheliches Badezimmer, denkt sie, während sie kühles Wasser in beide Hände laufen lässt und ihr Gesicht benetzt. Der Spiegel ist so groß, dass der ganze Raum sich in ihm verdoppelt. Noch immer spürt sie im Bauch ein Pulsen, als ob ihre Muskeln weiter zitterten im Rhythmus des Lachens. Den grandios kitschigen Proporz von löwenköpfigen Wasserhähnen und zehnstufigen Massageduschen in Anitas Bad hat sie stets amüsant gefunden, aber dieser Raum, in dem sie sich für einen Moment auf den Rand der Wanne hockt, ist zu viel. Sie will auch so ein Bad, nicht der glänzenden Armaturen und der großen Wanne wegen, sondern weil es einen so warmlichtig und sauber empfängt, mit all den kleinen Accessoires jahrelanger Zweisamkeit, frei von den klobigen Stütz-BHs einer alten Frau und dem süßlichen Hauch im Erdreich verrottender Leitungen. Ein Bad, in dem man sich Zeit lässt mit allen Verrichtungen und mit Gelassenheit feststellt, dass die Falten im Gesicht sich vertiefen. Ihre eigene Badezimmertür dagegen öffnet sie immer häufiger mit dem Gefühl, sie betrete den schäbigen Wartebereich der Wechseljahre.

Neid — die große dunkle Wolke, aus der ununterbrochen saurer Regen fällt.

Ahnt Frau Preiss das nicht, diese Missgunst in ihren Gedanken? Oder ist ihre Nachbarin in all ihrer ungestümen Wohlgelauntheit selbst ein wenig einsam und genießt es daher, mit jemandem einen Abend zu verbringen, der noch einsamer ist? Der Bademantel über dem Korbstuhl ist aus echter Seide, das sieht sie, ohne ihn anzufassen. Sicherlich ein Geburtstagsgeschenk des geschmackssicheren Gatten. Wo lässt man eigentlich Initialen auf seidene Gewänder sticken? Und wozu rätseln, was andere bewegt. Was sucht sie selbst hier? Was hat sie verloren in der Gesellschaft von Frau Preiss, wenn sie nicht einmal deren Bad benutzen kann, ohne dass das Strahlen der Armaturen wie ein Schatten auf ihr eigenes Leben fällt? Selbst die Toilette strahlt, und erst als sie darauf Platz genommen hat, fällt ihr ein, dass es in einem Haus wie diesem eine Gästetoilette geben muss und dass sie beim Hereinkommen — neben der Haustür links — die Tür wahrgenommen hat, hinter der sich nichts anderes als ein kleines, aber ebenso sauber blitzendes Gästeklo befinden wird, zu dem Frau Preiss’ Richtungsangabe sie also hat geleiten wollen. Und sie sitzt im ehelichen Bad der Preissens und kontempliert missmutig ihr Leben. Mit angehaltenem Atem horcht sie nach Schritten in der Diele, greift hastig nach dem Papier. Die tiefen Teppiche im Flur werden kein Signal geben, ehe jemand von außen den Türgriff fasst …

Was sie hört, ist ihr eigener Herzschlag.

So schnell, als hätte sie sich zum Pinkeln hinter die Leitplanke gehockt und sähe um die nächste Kurve ein Auto biegen, beendet sie ihre Sitzung, spült, wäscht sich die Hände und vertraut darauf, dass ihre Frisur nicht in allzu großer Unordnung ist. Lediglich eine einzelne Männersocke bemerkt sie noch neben der Tür, bevor sie nach einem spähenden Blick hinausschlüpft und der Anfall von Panik sich umgehend in eine Mischung aus Erleichterung und Beschämung wandelt.

Sie hat schließlich nicht in fremden Schränken gewühlt.

Ein angenehm kühler Hauch weht vom Wohnzimmer in ihre Richtung, Frau Preiss muss die Balkontür geöffnet haben. Im Spiegel der Diele überprüft sie ihre Frisur und schneidet sich selbst eine Grimasse. Jeden kleinen Moment der Ausgelassenheit bezahlt sie mit diesen Anfällen von Selbst-Inquisition. Aber warum? Und woher kommt diese idiotische Angst vor jedem noch so bedeutungslosen Fauxpas?

* * *

Unter die Fahne zu gehen kostete nichts, aber man bezahlte trotzdem was. Man bezahlte, soviel man eben wollte, und da wunderte er sich schon ein bisschen, dass die meisten ziemlich viel bezahlten. Manchmal zwanzig Mark, aber nur Erwachsene, eigentlich nur Männer. Für Kinder reichen fünf, ihr trinkt ja hinterher auch kein Bier, hatte sein Vater gesagt. Man bekam ein Abzeichen, und mit dem Abzeichen bekam man alle Getränke umsonst bei der Gesellschaft, wo man vorher unter der Fahne gewesen war. Man ging einfach zu dem Stand hin und nahm sich was von der Theke. Weil Grenzgang war und man das Abzeichen hatte. Er hatte schon vier, aber noch zwei Fünfmarkstücke in der Tasche, und wo Onkel Hans saß, wusste er auch. Dem war die lange Wanderung gestern tierisch auf die Beine gegangen, der hatte sich mit Kleidern ins Bett gelegt und nur den Kopf geschüttelt, als alle zum Rummel gingen. Nichts mehr gewohnt, hatte seine Mutter gesagt. Die war gestern komisch gewesen, vor dem Rummel und danach noch mehr, aber die war in letzter Zeit häufig komisch, und daran wollte er jetzt nicht denken, sonst war der ganze Spaß weg.

Den Typen von gestern sah er nicht mehr. Er konnte aber nicht richtig gucken, während er mit der Cola in der Hand die Böschung raufkletterte. Von oben hatte man den besten Blick. Die meisten saßen unten am Hang auf der Wiese, seine Mutter und Onkel Hans und die anderen von der Rheinstraße, aber oben saß keiner, und deshalb wollte er da hin. Es war nur ein schmaler Streifen mit Gras, bevor der Tannenwald begann. Oben zog er sich den Pullover von der Hüfte, legte ihn auf den Boden und setzte sich drauf und hatte den ganzen Frühstücksplatz im Blick. Und fast nichts verschüttet.