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Überall wurden Fahnen geschwungen, und Leute flogen durch die Luft, manchmal sogar richtig dicke. Vier oder fünf Kapellen spielten. Man musste seinen Namen sagen vorher, damit der Führer wusste, was er zu brüllen hatte: Der und der oder die und die, lebe hoch, hoch, hoch! Ganz am Rand, wo der Grenzstein war, wurde gehuppcht. Hatte er gestern gemacht und dann den ganzen Nachmittag eine schwarze Backe gehabt. Und es war auch nicht so lustig. Man wurde nicht geschmissen, sondern nur drei Mal hochgehoben über dem Grenzstein, und hinterher musste man richtig latzen. Weniger als zehn Mark waren peinlich, auch für Kinder. Die Wettläufer und der Mohr hatten schließlich ordentlich was zu tun an Grenzgang. Sein Vater hatte sich sein erstes Auto gekauft von dem Wettläufer-Geld.

Die drei Abzeichen von gestern steckten an seiner Hose (da bekam er heute nichts mehr für, es gab jeden Tag andere), das von heute am T-Shirt. Der Walfisch von den Rheinstraßen-Burschen. Der war eigentlich zu schwer fürs T-Shirt, also nahm er ihn ab und steckte ihn sich erst an die Hose, dann an die Socke, dann an den Schnürsenkel, und dann machte es» Buh!«hinter ihm, und der Walfisch wäre ihm fast ins Glas gefallen.

Linda hockte sich neben ihn ins Gras. Hockte auf den Fersen, legte die Arme auf die Knie und das Kinn auf die Arme und sagte:

«Erschrocken?«Sie roch wieder nach Kaugummi, obwohl sie keins kaute.

«Nein.«

«Doch. Du hast so gemacht. «Sie zog die Schultern zusammen und den Kopf ein.

«Und wo bist du gewesen?«

«Im Wald, pinkeln.«

Er sah sich nach Nobs um, aber der war nicht zu sehen. Der ganze Platz war voll; ein kleinerer Platz als auf der Sackpfeife und leicht schräg, so dass er am unteren Ende über die Bäume gucken konnte auf die anderen Bäume, den Wald und noch mehr Wald, ohne Ende. Bergenstadt musste in der anderen Richtung liegen.

«Darf ich was von deiner Cola?«

Er wusste nicht, wie er nein sagen sollte, also sagte er gar nichts und gab ihr das Glas.

Sie hatte keine Kette mehr um, aber eins von diesen geflochtenen Bändern am Handgelenk, das jetzt alle Mädchen in der Klasse trugen. Die Sonne schien, und es schmerzte ein bisschen in den Augen, so über den Platz zu gucken.

Linda gab ihm das Glas zurück, und er trank neben ihrem Abdruck, genau daneben.

«Deine Mama winkt«, sagte sie.

«Ich seh sie nicht. «Das stimmte. Er wusste zwar, wo sie saß, aber er sah nicht hin, und drum sah er sie auch nicht.

Linda zeigte mit dem Arm in die Richtung.

Er suchte auf dem Boden nach dem Walfisch. Ein paar Ameisen krabbelten über die Blätter, und es war komisch sich vorzustellen, dass für eine Ameise ein Blatt so groß ist wie ein Haus. Und der Wal-Anhänger so groß wie für ihn ein echter Wal. Und was für ein Wesen das wäre, für das ein echter Wal so klein ist wie für ihn der Anhänger. Als er noch kleiner war, hatte er geglaubt, dass es das gibt und im Wald wohnt. Am Hainköppel, hinter der Biegung.

«Direkt vor uns«, sagte Linda.»Auf der Bank. Da!«

Er spürte ihren Blick an der Seite, nahm den Walfisch und hauchte auf das silbrige Metall.

«Und?«, fragte er.

«Jetzt guckt sie wieder weg. Oh nein, und jetzt steht mein Papa auf dem Fass!«

Er sah auf und sah Herrn Preiss da stehen, wo vorher sein Vater gestanden hatte. Die wechselten sich immer ab, kein Grund, so’n Aufstand zu machen.

«Muss er doch als Führer.«

«Ich mag’s aber nicht, wenn er da steht und brüllt.«

Jetzt sah er sie von der Seite an, und Linda guckte woanders hin. Er hörte die Hochrufe und die Musik, aber für einen Moment sah er nur die Sommersprossen auf ihrer Nase und die kurzen Haare vor den Ohren, die nicht mehr in den Zopf gepasst hatten. Fast weiß. Sie trug einen Ohrring und sah ängstlich aus, und vielleicht sagte er deshalb:

«Das war doof von Nobs vorgestern, wir hätten eigentlich noch jemanden gebrauchen können.«

«Hättet ihr euch mal früher überlegen müssen.«

«Ja. «Den nächsten Schluck trank er genau da, wo ihr Abdruck war, und er trank alles aus. Herr Preiss schwang den Säbel in die Luft, und man sah, dass er gerade erst angefangen hatte. Am Ende machten sie nur noch, als würden sie mit dem Taschentuch winken.

Sein Vater stand neben der Fahne und trank Bier und sah sich um. Fächelte sich Luft zu mit der Hutkrempe.

«Wo gibt’s den Walfisch?«, fragte Linda.

«Bei der Rheinstraße. Bei den Burschen.«

«Den will ich auch.«

Sie hatte selbst schon eine Menge Abzeichen am T-Shirt und um den Hals, aber den Wal nicht.

«Geh unter die Fahne bei denen.«

«Wo?«

«Da. «Er zeigte mit dem Arm in die Richtung, aber nicht ganz genau, sonst hätte er zu seiner Mutter gezeigt.

«Seh nix«, sagte Linda.

Als er aufstand und losging, wusste er, dass sie hinter ihm herkam, weil sie wusste, dass er zu den Rheinstraßen-Burschen ging, obwohl er den Wal schon hatte. Er tat aber so, als wüsste er’s nicht. Und den Wal steckte er in die Tasche. Ohne die Hand auf den Boden zu stützen, kletterte er die Böschung runter und hörte Linda rutschen. Das Glas stellte er zurück auf die Theke. Es war warm zwischen den Leuten. Die Musik flog so über den Platz, verschiedene Musiken aus verschiedenen Richtungen, und als es eng wurde und er schieben musste, war Linda genau hinter ihm. Einmal hielt sie ihn am Arm. Er ging ein bisschen zickzack, immer dahin, wo am wenigsten Platz war. Auf dem Boden lagen Zigaretten und Servietten, und die Leute rochen nach Würstchen und Bier. Dann blieb er ganz plötzlich stehen, und Linda lief gegen ihn.

«Tierisch eng hier«, sagte er.

Sie gingen durch Schatten und Sonne, und einmal guckte er hinter sich, ob Linda noch da war. Dann kamen sie bei den Rheinstraßen-Burschen an, wo immer das meiste Gedränge herrschte, weil alle den Walfisch wollten. Hier war nur Schatten, aber er wusste, wo sie sich anstellen mussten.

«Hast du Geld?«

Sie schüttelte ihren Brustbeutel und nickte. Seine Ohren waren warm, und er wollte gar nicht, dass sie drankamen. Nur so stehen und warten. Vor ihnen flog eine Frau in die Luft und kreischte, und überall wurde gelacht. Um sie herum waren alle viel größer. Er hätte gerne denselben Schulweg gehabt wie sie. Davon hatte er manchmal geträumt vor dem Schlafen, dann führte der Schulweg aber nicht den Kornacker runter wie ihrer oder die Rheinstraße entlang wie seiner, sondern irgendwo hinten die Lahn entlang. Wo die Sonne schien. Nicht dass er drauf geachtet hätte, aber in ihren Haaren sah er’s, so wie oben auf der Böschung. Sonne. Ein bisschen tat es weh in den Augen, aber man konnte ja blinzeln.

Dann war niemand mehr vor ihnen, und er fasste Linda an den Schultern, schob sie nach vorne und sagte:

«Bis gleich.«

«Wehe, du rennst einfach weg.«

Die Burschen vom Stemmkommando waren alle riesengroß und schwitzten, und einer sagte:»Endlich ma was Handliches. «Er sah sie nur bis zu den Gürteln, bis wohin Linda ihnen reichte, als sie nach vorne ging. Sie stellte sich in die Mitte und sah den Führer an, der sich auf seinem Fass nach unten beugte. Es war weder laut noch leise rings umher, und Linda sagte langsam und deutlich:»Linda Preiss.«

Sie stand schon so, wie man stehen musste, ganz steif und mit den Armen vor dem Körper, denn wenn man sie nach oben nahm, waren sie in der Luft plötzlich hinten, und dann bestand Salto-Gefahr. Nur ihren Brustbeutel steckte sie sich vorher noch unters T-Shirt.