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«Dem dritten Führer Preiss seine Linda is bei uns unner der Fahne«, rief der auf dem Fass so laut, als müsste der ganze Frühstücksplatz jetzt hergucken.

Und Linda sagte:

«So hoch wie’s geht, bitte. «Dann blies sie die Backen auf und lies sich einfach nach hinten fallen und lag auf den Armen wie bei den Feuerübungen in der Schule, wenn einer den Schwerverletzten auf der Trage spielen darf. Zwei vom Stemmkommando fassten gar nicht mit an, weil nicht viel zu fassen war.

«Die Linda Preiss, sie lebe …!«

Dann flog sie —»hoch!«Höher als er vorher jemanden hatte fliegen sehen. Ihr Fuß berührte den Stoff der Fahne. Ihre Haare flogen, und die Abzeichen um ihren Hals flogen, und der Brustbeutel unter ihrem T-Shirt flog auch. Und als sie ganz oben war, hörte er sie lachen.

Er wusste jetzt, dass er verknallt war. Vielleicht hatte er’s schon vorher gewusst, aber es fühlte sich anders an als erwartet. In der Schule war immer jemand verknallt, und er hatte geglaubt, das ist wie einen Pickel auf der Nase oder den Hosenstall offen zu haben: Alle zeigen drauf und lachen. Aber jetzt sah niemand ihn an, und die, die lachten, lachten nicht über ihn. Verknallt sein war wie fliegen. Es war eigentlich das Beste überhaupt.

Linda war so lange in der Luft, dass einer vom Stemmkommando sich am Kopf kratzen konnte zwischendurch. Er beschloss, eine Cola für sich und eine für sie zu kaufen von dem Geld, das er noch hatte. Vielleicht konnte er ihr helfen, den Walfisch irgendwo festzumachen, so wie Männer Frauen mit der Halskette helfen. Es war gerade erst Mittag, sie würden stundenlang zurücklaufen nach Bergenstadt und am Abend auf den Rummelplatz gehen. Und morgen noch einmal!

Dann kam sie zum dritten Mal runter und klopfte sich auf die Brust, als hätte sie Husten, und sagte:

«Ich hab dir die Zunge rausgestreckt, und du hast nicht geguckt.«

Er ging ihr entgegen, und jetzt war es doch ein bisschen so, als hätte er einen Pickel auf der Nase. Er hielt den Walfisch fest in seiner Hosentasche. Sie standen zwischen den Großen, und Linda lachte, als hätte sie oben in der Luft einen guten Witz gehört. Dann sagte jemand:

«Dich hatt’n wir doch heute schomma hier.«

Er sah sich um, und alle sahen ihn an. Linda machte an ihrem Zopf rum. Der Führer auf seinem Fass hatte einen Bart und nickte von oben auf ihn herab, ohne sich runterzubeugen, und plötzlich war alles stiller als vorher, und die Leute schienen zu überlegen, ob da wohl einer so verknallt war, dass man mit dem Finger drauf zeigen und lachen konnte.

«Mich?«, fragte er.

Irgendwo sagte jemand was von wegen Bambergers Junge. Man durfte wahrscheinlich nicht zwei Mal unter dieselbe Fahne. Vermutlich gab’s so viele Walfische auch wieder nicht. Aber jetzt stand er neben Linda, und sie konnten ihn hier nicht einfach wegjagen.

«Ich heiß nicht Bamberger«, sagte er. Er sagte es so klar und deutlich, wie er es bei Lügen-Mäxchen versuchte, wenn er die falsche Zahl hatte. Es fühlte sich komisch an im Hals und an den Ohren, aber er hatte es gesagt, ohne sich zu verraten. Er hieß nicht Bamberger, klar?

Linda war fertig mit ihrem Zopf und sagte:

«Das ist mein Cousin aus Hamburg. Der heißt Jan.«

Ohne hinzugucken, sah er, wie sie sich über ihm anguckten und der Führer die Schultern zuckte und mit der rechten Hand nach dem Säbel griff. Linda verzog keine Miene. Seine Ohren waren rot, aber er verzog auch keine Miene. Das hieß, dass sie auch verknallt war. Sie hätte ja einfach gehen können und sich ihren Walfisch holen, aber sie wollte unten stehen, während er in die Luft geworfen wurde, so wie er vorher gestanden und gewartet hatte.

«Du musst dich da hinstellen, Jan«, sagte sie und zeigte auf den Punkt, wo das Gras plattgetreten war und die Erde schon durchguckte.

Er stellte sich da hin zwischen die Burschen vom Stemmkommando, in den Schweiß- und Biergeruch und machte sich steif wie ein Brett.

«Der Jan aus Hamburg ist bei uns unter der Fahne«, rief der Führer, aber leiser als vorher. Die vom Stemmkommando fassten ihn an den Oberschenkeln und am Rücken, und dann war er der Schwerverletzte bei der Feuerübung, und die Sanitäter guckten ihn an, als wüssten sie auch nicht, was mit ihm nicht stimmte.

«Der Jan, er lebe …«Dann flog er ins» Hoch!«hinein. Über die Köpfe bis zur Fahne. Er konnte nur nach oben gucken, aber trotzdem sah er den Frühstücksplatz um sich herum, die Kapellen und Fahnen, die Stände der Metzgereien und die Leute, die dort standen und saßen. Musik war unter ihm und Hochrufe. Bestimmt sah seine Mutter ihn fliegen, ohne zu wissen, dass es Jan aus Hamburg war, der da durch die Luft segelte. Luft, die noch nach Kaugummi roch oben am höchsten Punkt. Nur ein paar Baumspitzen waren noch höher. Und was er fühlte, war größer als er, lag mit ihm in der Sonne, lebte hoch und schwebte.

* * *

«Hier draußen«, ruft Karin Preiss durch die geöffnete Balkontür. Eine lauwarme Brise weht durch die Wohnräume und hüllt Kerstin in Nacht- und Gartenduft, als sie den Balkon betritt, der zwei Seiten des Hauses wie eine Terrasse einfasst und wie ein Schanzentisch über den Ort zu ragen scheint. Verkehrsgeräusche treiben aus dem Tal herauf.

«Huh. «Sie atmet ein, so tief sie kann, und ist froh, nicht in die Stickigkeit des Wohnzimmers zurückkehren zu müssen. Auf dem Balkongeländer liegt schon nächtliche Feuchtigkeit.

«Ich hoffe, da war noch genug Papier, Frau Rheinberger vergisst das manchmal. Wir haben nicht oft Besuch.«

«Doch, doch.«

«Ihr Glas hab ich Ihnen da auf das Tischchen gestellt.«

«Danke.«

Einen Moment lang stehen sie schweigend nebeneinander, und Kerstin ist dankbar für die Dunkelheit und das nächtliche Tal, das ihren Blicken ein unverfängliches Ziel bietet. Einzelne Scheinwerferlichter malen den Verlauf der Umgehungsstraße in die Finsternis. Hinter dem Schlossberg schaut die Turmspitze der Stadtkirche hervor.

«Ihr Sohn könnte uns jetzt wahrscheinlich sagen, ob das da hinten der Abendstern ist. «Frau Preiss’ ausgestreckter Finger weist in Richtung Gartenberg.

«Als meine Mutter noch nicht bei uns gewohnt hat, war das Zimmer nach vorne raus zum Balkon seines. Da hat er sein Teleskop aufgestellt, und gelegentlich durfte ich dann auch durchschauen. Deshalb kann ich Ihnen sagen: Es ist in der Tat der Abendstern. Auch Morgenstern oder Venus genannt.«

Frau Preiss nickt.

«Ist eigentlich ein schönes Hobby: Sterne, Planeten. Ich wünschte, meine Tochter hätte so was auch. Ein Hobby, das man sogar zu einem Beruf machen kann eines Tages.«

«Oder es irgendwann im Keller einmotten.«

«Oder das.«

«Ich hab auch mal gedacht, ich könnte aus meinem Hobby einen Beruf machen.«

«Tanzen, damit liegen Sie eher auf der Linie meiner Tochter. Muss ich ihr mal erzählen, dass Sie das studiert haben. Gibt’s hier keine Möglichkeit, in dem Bereich zu arbeiten?«

«Kennen Sie eine? Ich werde nämlich demnächst arbeiten müssen, haben mein Exmann und das Justizministerium gemeinsam beschlossen. «Sie erwähnt die Änderung des Unterhaltsrechts, ändert es aber in Eigenregie noch ein wenig weiter, so dass sie Andreas Schwangerschaft aus der Geschichte rauslassen kann.»Und verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts dagegen zu arbeiten, grundsätzlich. Im Gegenteil. Bloß mit meiner Mutter …«

«Schwierig. «Frau Preiss scheint vertieft zu sein in den Anblick einer weißen Sonnenliege unter ihnen auf der Wiese.»Aber um die Ausbildung beneide ich Sie trotzdem. Ich hab Abitur und sonst nichts. Zwei Semester Jura in Gießen, in denen ich gelernt habe, wo sich die Mensa befindet. Ein sogenanntes freiwilliges soziales Jahr hab ich vorher noch gemacht. Und danach zwei freiwillige nicht ganz so soziale. Dann hab ich geheiratet. Kennen Sie noch diesen bescheuerten Loriot-Sketch mit dem Jodeldiplom?«