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«Glaub schon.«

«Was Eigenes. «Frau Preiss unterdrückt ihr Lachen mit einem Kopfschütteln.»Aber genau so was Eigenes hab ich nie gemacht, nicht mal ein Jodeldiplom. Nicht mal Wassergymnastik beim Roten Kreuz. Glühwein am Weihnachtsmarkt hab ich verkauft, zusammen mit den anderen Rotarier-Frauen. Immerhin für einen guten Zweck.«

«Eine Tochter haben Sie großgezogen, soweit ich weiß.«

«Fällt das unter die Kategorie ›was Eigenes‹?«

«Fällt es unter irgendeine Kategorie? Ich hab Ihnen doch von meiner Freundin am Starnberger See erzählt, die eigentlich von hier kommt.«

«Anita — wie heißt sie jetzt?«

«Halbach. Wenn Sie sie ärgern wollen, sagen Sie ›von Halbach‹, das stimmt nämlich auch.«

«Als ich in der neunten oder zehnten Klasse war, gab es in meinem Jahrgang wenige Mädchen, die nicht so sein wollten wie Ihre Freundin Anita. Die muss in der Zwölf oder Dreizehn gewesen sein. Damals gab’s noch eine Disco hier in Bergenstadt, Melody-Maker, war ja die große Discozeit. Und es liefen die tollsten Gerüchte rum, in welchem Outfit Anita … na?«

«Becker.«

«Becker, genau. In welchem Outfit die dort aufgelaufen und mit welchem Kerl sie wieder abgedampft ist. Alles erfunden wahrscheinlich.«

«Glaub ich nicht.«

Mit einem Ausdruck erfreuten Erstaunens wendet Frau Preiss ihr das Gesicht zu. Soweit es in der Dunkelheit zu erkennen ist, haben Sekt und Wein ein deutliches Rot auf ihren Wangen hinterlassen.

«Nein? War die wirklich so? Für mich war sie so, keine Frage. Ich wollte, dass sie so ist, ich wollte ja selbst so sein.«

«Die war nicht nur so, die ist es immer noch. Nicht mehr auf dem Land natürlich und nicht mehr in Discotheken, aber das war es, was ich sagen wollte: Anita hat immer genau das gemacht, was sie machen wollte, immer ihr eigenes Ding sozusagen. Ist hierhin und dahin gereist, hat Männer getroffen und irgendwann einen davon geheiratet, einen mit Immobilien noch und noch.«

«Sie war also wirklich so«, murmelt Frau Preiss.»Irgendwie gefällt mir das. Die Frau hatte wirklich Schwung.«

«Und seitdem hat sie mehr Geld, als sie je wird ausgeben können. Hat eine Boutique eröffnet und ein halbes Jahr später wieder dichtgemacht, weil sie keine Lust mehr hatte. Vor zwei Wochen rief sie aus Nizza an, einer ihrer Liebhaber hat sie dahin mitgenommen oder sie ihn. Was weiß ich. «Es ist ihre übliche, nicht ganz aufrichtige Empörung über ihre einzige Freundin. Aber das, was sie eigentlich hat sagen wollen, behält sie für sich: Dass Anita keine Kinder hat und auf der Schwelle zu dem Alter steht, da ihr Lebensstil einen Hauch von Lächerlichkeit bekommt. Dieses Abwärtsschlittern von Affäre zu Affäre, jenseits der Vierzig und mit Liebhabern, die entweder gekauft sind oder noch älter als sie.

«Und?«

«Und — würden Sie so leben wollen?«

«Ha!«Ein plötzlicher Husten schüttelt Frau Preiss so heftig, dass sie ihr leeres Glas abstellen und sich am Geländer festhalten muss. Es wirkt ein wenig theatralisch und gespielt. Unten im Garten steht ein Beistelltisch neben der Liege, darauf ein vergessenes Magazin, dessen Seiten sich in der nächtlichen Feuchtigkeit zu wellen beginnen. Es dauert eine Weile, bis Frau Preiss tief durchgeatmet hat und den Blick wieder hebt.

«War das eine Fangfrage jetzt?«

«Nein. Finden Sie nicht, dass es ein Leben auf der Flucht ist? Dass da was fehlt? Dass sie etwas nachjagt, was sie nie kriegen wird, weil sie genau genommen vor etwas wegläuft. Kurz und gut: eine Flucht vor der Einsamkeit?«Erst jetzt bemerkt sie das flackernde Teelicht, das in einem kleinen runden Gefäß von der Decke des Vordachs hängt, schräg hinter ihnen beiden, so dass Frau Preiss’ Gesicht zur Hälfte im Licht und zur Hälfe im Schatten des Gartens liegt und ihr Blick etwas einäugig Bohrendes bekommt.

«Sie finden also nicht, dass man vor der Einsamkeit fliehen sollte. Ich nämlich schon.«

Kerstin öffnet den Mund, um zu erwidern: Ich auch, aber… Doch dann zuckt sie bloß die Schultern und schaut auf die Ansammlung von Lichtern im Tal, die immer spärlicher werden, je höher es die Hänge hinaufgeht. Darüber ein Ring aus schwarzem Wald. Die Hornberger Straße ist die höchstgelegene Straße am Rehsteig, eine letzte Lichterkette aus Laternen. Darüber herrscht Finsternis.

«Gehen wir rein?«, fragt Frau Preiss,»oder soll ich die Flasche nach draußen holen?«

Statt einer Antwort nickt sie nur, und Frau Preiss nickt ebenfalls, während sie sich vom Geländer löst und ihre Hand einen Moment auf Kerstins Schulter legt, bevor sie nach drinnen geht.

Vor der Einsamkeit fliehen, klar. Aber wohin?

Es ist schließlich kein Zufall, denkt sie, dass sie seit Jahren mit niemandem Umgang hat außer mit ihrem Sohn und ihrer Mutter. Selbst mit Anita telefoniert sie nur, um bei ihren ständigen Selbstbefragungen wahrheitsgemäß angeben zu können, dass es eine Freundin gibt, mit der sie redet. Beinahe regelmäßig. Scheinbar ein starkes Indiz für soziale Normalität, dabei ist es drei Jahre her, dass sie zuletzt keinen Vorwand gefunden hat, eine von Anitas Einladungen abzulehnen. Und jetzt? Bei Frau Preiss’ Anruf hat sie nicht einmal nach einer Ausrede gesucht, aber je länger der Abend dauert, desto stärker wird das Gefühl, zu irgendeiner Art von Freundschaft gar nicht mehr in der Lage zu sein, die nötige Unbefangenheit nicht mehr aufzubringen, um mit jemand Unbekanntem aufzubrechen, ohne zu wissen wohin. Dieses kurze Stück am Anfang, wenn man sich noch nicht an den Händen fassen kann.

Könnte Weidmann jemand sein, der das versteht? Dem es vielleicht sogar ähnlich geht? Besitzt er so viel Verständnis, wie sie in seinem Blick hat lesen wollen vor ein paar Tagen auf ihrer Terrasse? Seine unsensiblen Ausführungen über das Vergessen hat sie ihm bereits verziehen, und jetzt wächst zart, aber zäh die Hoffnung in ihr, noch vor dem Elternsprechtag von ihm zu hören.

Ihre Armbanduhr zeigt halb zwölf. Die Lichter von Bergenstadt beginnen zu schwimmen in der Dunkelheit. Am liebsten würde sie jetzt nach Hause gehen durch nächtlich stille Straßen. Sie hofft, dass ihre Mutter nicht wieder durchs Haus geistert im Glauben, es wäre bereits Morgen. Doktor Petermann hat ihr Mut gemacht in Sachen Pflegegeld. Angesichts des Zustandes ihrer Mutter sehe er keine Schwierigkeiten und rate gleich zu einem Antrag auf Pflegestufe II. Außerdem hat er empfohlen, wegen der Kopfschmerzen ein CT zu machen, vielleicht in Verbindung mit einem kurzen stationären Aufenthalt. Sie hat ihm erzählt, dass ihre Mutter nicht mehr durchschläft, und er hat ununterbrochen genickt, so als würde er sagen: Ich verstehe schon, was Sie meinen. Sie gesteht es sich ungern ein, aber ihre Mutter für ein paar Tage aus dem Haus zu haben und sie in dieser Zeit gut versorgt zu wissen, ist eine verlockende Vorstellung. Heute klebt für den Fall der Fälle ein Zettel mit Preissens Telefonnummer auf dem Nachttisch, aber ob ihre Mutter überhaupt noch in der Lage ist, einen Anruf zu machen, weiß sie nicht. Kerstin atmet ein und schließt die Augen. Ihre empfindlichen Schläfen beginnen allmählich, ihrem Ruf gerecht zu werden.

«Wie haben Sie und Anita sich eigentlich kennengelernt?«Mit der Weinflasche in der Hand kehrt Frau Preiss auf den Balkon zurück.

«Übers Tanzen. In Köln.«

«Die hat auch studiert? Nein.«

«Mehr oder weniger, das heißt: dies und das. Eigentlich jedes Semester was anderes, bis sie irgendwann keine Lust mehr hatte.«

«Und mit ihr sind Sie hierher gekommen?«

«Vor einundzwanzig Jahren, eigentlich nur für ein Wochenende.«

«Lassen Sie mich raten. Nein, lassen Sie mich nicht raten, es ist zu offensichtlich.«

Sie sehen einander an, und Kerstin nickt.

«Einer der Wettläufer hat mir gefallen. Verlieb dich nicht in einen Hiesigen, hat Anita noch gesagt, aber offenbar wollte ich nicht auf sie hören.«