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Kerstin beschränkte ihre Antwort auf ein Nicken.

«Ich will ganz ehrlich sein un direkt. Un ich hab auch schon was getrunken, geb ich zu.«

«Sieht man«, sagte sie.

«Große Gaudi, was?«Er sah sich um, und Kerstin überlegte, einfach loszugehen, ihren Sohn aus dem Bannkreis der kleinen Linda Preiss zu ziehen — die warf gerade eine Süßigkeit in die Luft, bekam sie auf die Backe und lachte — und nach Hause zu gehen. Sie hatte an diesem Tag vier- bis fünftausend angetrunkene Männer gesehen. Es reichte. Sie dachte das Wort ›Kopfschmerzen‹, noch bevor sie spürte, dass sie welche hatte.

«Ja, aber was ich sa’ng wollte: Können Sie Ihren Mann denn gar nich von meiner Freundin weghalt’n?«Immer noch nickend, nahm er die Brille ab und wischte mit dem Ende seines T-Shirts daran herum, aber so wie das T-Shirt aussah, würde das seine Sicht nicht wesentlich verbessern.

«Sie wollen mir nicht vielleicht Ihren Namen sagen. «Sie wusste ihn längst, sie wusste bloß sonst nichts zu sagen.

«Lars Benner. Sie könn’ ruhich Du sagen.«

Und da stand sie: Einem betrunkenen Teenager gegenüber, das groteske Negativ-Pärchen zu der peinlichen Romanze, in die ihr Mann sich verstrickt hatte. Der Gehörnte und die Betrogene, schön, dass wir uns auch mal kennenlernen, so als wären die letzten beiden Tage noch nicht demütigend genug gewesen. Wahrscheinlich war das noch nicht einmal das Ende. Morgen schon konnte sie dieser Andrea gegenüberstehen, auf dem Frühstücksplatz, und sich Tipps geben lassen, was sich gegen einen erschlaffenden Busen tun ließ.

Lars Benner hatte seine trübe Brille wieder aufgesetzt und sagte:

«Sonst werd ich ihm am Ende eine reinhauen müssen.«

«Dann machen Sie das doch.«

«… Ja«, sagte er, als hätte sie ihn gebeten, auf der Stelle die Hose runterzulassen.

«Sie wissen, wo die Rheinstraße ist, gleich vorne links, direkt neben der Bühne. Gehen Sie hin, und hauen Sie ihm eine rein.«

«Hattas verdient oder nich?«

«Ganz sicher.«

«Die Andrea weiß manchma nich, wasse tut. Aber Ihr Mann …«

«Der immer. Und Sie wissen, wo Sie ihn finden.«

«Verdient hättas.«

Kerstin konnte sich nicht wehren gegen den Gedanken, dass es vom Standpunkt dieser Andrea aus ein nachvollziehbares Bedürfnis war, das trotzige Kind mit der eingetrübten Brille irgendwo abzustellen und zu erkunden, wie es sich anfühlt, von einem Mann begehrt zu werden. Nicht trotz, sondern wegen des Altersunterschiedes. Sie hatte sie hier und da gesehen während der letzten beiden Tage und sich nicht dazu durchringen können, so etwas wie Hass zu empfinden. Ein junges Ding, hübsch und sexy und sich dessen auf eine Weise bewusst, in der Kerstin mehr Neugier als Zufriedenheit vermutete. Ihr Freund stand ihrer Attraktivität wahrscheinlich wie etwas Heiligem gegenüber, das er beständig seiner Verehrung versichern musste, auch wenn er nicht umhinkonnte es zu entweihen. Unterwürfig und dankbar, mit gelegentlichen Kompensationsversuchen in herrischer Männlichkeit. Sie glaubte ihm das vom Gesicht ablesen zu können, während er sie mit stummen Blicken anzuflehen schien, diese Aufforderung zur Gewaltanwendung zurückzunehmen und ihm stattdessen eine Zuckerwatte zu kaufen. Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. Wahrscheinlich war er Andreas Freund seit der siebten Klasse. Wie sollte die Zuneigung einer solchen Flasche eine junge Frau mit etwas anderem erfüllen als naiver Freude über das eigene Aussehen und der Ahnung, dass sich damit mehr anstellen ließ als einen wie Lars Benner vor Geilheit zum Schielen zu bringen?

Deine Freundin weiß genau, was sie tut, dachte sie, und sie wird sich eher eine Glatze rasieren, als zu dir zurückzukommen.

«Noch was?«, fragte sie.

«Sie woll’n also nich mal mit ihm reden?«

«Ich denke, das überlassen Sie mir.«

«Der muss das doch einseh’n.«

«Auf Wiedersehen. «Sie ließ Lars Benner stehen und kam sich vor wie angeschossen. Am liebsten hätte sie ihre Wut aus sich heraus- und über den ganzen Rummelplatz gebrüllt: Dann nimm ihn dir eben, du kleine Schlampe! Lass es dir ordentlich von ihm besorgen! Stattdessen ging sie lächelnd in Richtung ihres Sohnes. Linda hob die Hand und winkte, und als sie bei den beiden ankam, sagte Daniel fröhlich frech:

«Auf meiner Uhr ist es ja gerade erst sieben.«

Seine kleine Freundin biss sich auf die Unterlippe und nickte.

«Ab nach Hause«, sagte Kerstin.»Morgen ist auch noch ein Tag. «Was für ein lausiger Job, dachte sie. Generalsekretärin des Realitätsprinzips, die den Zauber eines Tages beendet, so wie man mit dem Finger in eine Seifenblase sticht.

«Ich muss bestimmt auch. «Linda hüpfte von der Leitplanke und verschwand Richtung Zelt, aber an Daniels Blick erkannte Kerstin, dass sie sich hinter ihrem Rücken noch einmal umgedreht hatte und ein Signal verschickte, das nickend verstanden wurde. Daniel sah in diesem Moment ein paar Jahre älter aus, als er war.

«Gehen wir?«, fragte sie.

«Gleich. Erst stagnieren wir noch ein bisschen.«

«Natürlich. Hattest du einen schönen Tag?«

«Durchaus.«

Durchaus. Aha. Das Frösteln hatte sie wieder verlassen, sie nahm sich die Strickjacke von den Schultern, hielt sie in der Hand und sah ihren Sohn an. Dessen Blick richtete sich auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne.

«Wir könnten doch schon mal Richtung Brücke schlendern. «Mit dem Daumen zeigte sie hinter sich. Wie eine Erscheinung hatte er ihr dort gestern plötzlich gegenübergestanden, aber sein Verhalten deutete nicht darauf, dass er Zeuge des kurzen Rencontre auf der Brücke geworden sein könnte. Oder hatte er sich bereits daran gewöhnt, dass seine Eltern sich an Grenzgang eben außerehelich orientierten, und verfolgte nun seine eigenen amourösen Projekte? Da war etwas Undurchschaubares und Unkindliches an ihrem Sohn, sie wusste bloß nicht seit wann. Offenbar war sie schon geraume Zeit vor allem mit ihrer eigenen Befindlichkeit beschäftigt.

«Wir gehen da lang. «Ohne sie anzusehen, wies Daniel mit dem Arm auf die andere Brücke, weiter oben vor dem Krankenhaus. Lindas mutmaßlicher Heimweg.

«Das ist ein sogenannter Umweg«, gab sie zu bedenken.

Wortlos schüttelte er den Kopf, sah noch einmal auf den Punkt in der Ferne und nickte:

«Dann los.«

Langsam gingen sie die schmale Straße entlang, die zwischen Festwiese und Sportplatz zur Brücke führte. Im Zelt spielte Musik, die während des Refrains beinahe versank im tausendstimmigen Chor der Feiernden. Vermutlich sang ihr Mann auch mit, falls Lars Benner sich nicht doch noch ein Herz gefasst und ihm die Faust ins Gesicht gesetzt hatte. Fröhliches Chaos regierte die Welt, Atome und Hormone, Alkohol und Adrenalin. Ihr Sohn ging rückwärts, weil irgendwo hinter ihnen Linda Preiss sich in Begleitung ihrer Mutter auf den Heimweg gemacht hatte, und ihr Mann ging im Kreis, weil gerade an Grenzgang niemand wusste, wo die Grenze eigentlich verlief. Man musste sich auf seine Instinkte verlassen, aber dann kam die Dunkelheit dazu und der Alkohol, und schon lief man irgendwo am Flussufer in ein junges Ding, das sich auch gerade auf seine Instinkte verließ.

Kerstin sah Linda und ihre Mutter Hand in Hand Richtung Brücke gehen, aber in mütterlicher Begleitung schienen beide Kinder es vorzuziehen, sich aus der Ferne Zeichen zu geben. Der Himmel war dunkel jetzt. Daniel zog an ihrer Hand.

«Trödel nicht so.«

«Hast du dir eigentlich schon mal vorgestellt, woanders zu wohnen? Nicht in Bergenstadt, sondern woanders.«

«Stell dir vor, das hab ich.«

«Und wo?«

«Bei Oma Liese zum Beispiel. Oder in Hamburg.«

«Wieso ausgerechnet in Hamburg?«