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Er wird also nichts tun und nichts verhindern, das heißt, er wird auf den Versuch verzichten, schon vorher so klug zu sein, wie man erst hinterher sein kann. Einen Weinkühler findet er unter der Spüle, und da Kerstin Werner weiterhin im Bad beschäftigt ist, kramt er auch noch ein altes Teelicht hervor. Horcht auf dem Balkon ein Stockwerk tiefer, aber bei Schneiders läuft der Fernseher, und Geschlechtsverkehr ist dort ja erst morgen wieder dran. Die Grünberger Straße liegt ruhig in der frühen Nacht. Wenn Enttäuschung die notwendige Folge davon ist, dass die Struktur unserer Bedürfnisse und die der Realität so ungeheuer schlecht aufeinander abgestimmt sind, denkt er, dann spricht viel dafür, zwar nicht sein Heil, aber wenigstens Asyl in der Verzögerung zu suchen. Am besten zu zweit.

* * *

Als erstes stellt sie den Wasserhahn an und atmet kurz durch. Sie hat keine Zeit und muss dennoch besonnen handeln, bloß — und das ist die Kunst — ohne nachzudenken. Sich keine Rechenschaft ablegen über das, was sie tut, keine Überlegungen anstellen, wozu sie es tut, aber trotzdem umsichtig sein. Sich vor allem nicht ablenken lassen von der Frage, ob dieses Bad ihren Erwartungen entspricht und was es ihr über den Besitzer sagt. Mit einem Fuß zieht sie den Wannenvorleger vor das Waschbecken, entdeckt einen Stapel Handtücher in einem offenen Regal und daneben ein Korbgefäß, das vermutlich als Behälter für Schmutzwäsche dient. Mehr braucht sie nicht, nur einen kleinen Ruck muss sie sich geben, so wie oben auf dem Parkplatz der Sackpfeife, als sie sich rasch aus- und noch rascher wieder angezogen hat, in der offenen Autotür. Jetzt streift sie das schwarze Kleid ab und besitzt sogar die Geistesgegenwart, den Wannenrand auf Wasserrückstände zu kontrollieren, bevor sie das Kleid darauflegt. Den BH dazu, den Slip. Ihre Nacktheit in diesem Bad ist eine Vorstufe des Wahnsinns, aber davon darf sie sich nicht beirren lassen. Die ganze Rückfahrt über hat sie mit sich gerungen: Soll sie erst nach Hause fahren und in Ruhe duschen, die Unterwäsche wechseln und so weiter? Schließlich war sie stundenlang unterwegs an einem heißen Tag. Aber sie hat gewusst und weiß es noch: Der Moment, da sie am Rehsteig die Haustür hinter sich schließt, wäre der Moment, da ihr Entschluss, Thomas Weidmann in seiner Wohnung aufzusuchen, sich in Bedenken und Ausreden und das ultimative ›Ein andermal‹ aufgelöst hätte. Dazu Daniels Anwesenheit, die Aussicht auf einen Abend mit ihm und ohne ihre Mutter. Wäre sie an den Rehsteig gefahren, wäre sie jetzt nicht hier. Und auch später nicht.

Zwei kleine Handtücher nimmt sie aus dem Regal, solche, deren Gebrauch auch in einem Ein-Personen-Haushalt vielleicht nicht registriert wird. Eins legt sie auf den Boden, das andere wandert wie ein Schal um den Nacken. Den Mut, unter seine Dusche zu steigen, hat sie nicht; das würde er hören. Also schnelle Körperpflege am Waschbecken, sie entscheidet sich für Seife und gegen eine Erwiderung des Blickes im großen Spiegel. Nassrasierer ist er, das gefällt ihr. Den Drang, ein Lied zu pfeifen, unterdrückt sie und horcht stattdessen, ob Geräusche in der Wohnung ihr verraten, was Thomas Weidmann gerade tut. Zwischendurch glaubt sie wie einen roten Schriftzug die Worte ›Du stehst nackt in seinem Bad‹ im Spiegel aufblitzen zu sehen, aber sie achtet nur umso konzentrierter auf das Tun ihrer Hände und den Radius des Spritzwassers, das hilft. Der Seifenduft kommt ihr feminin vor. Kauft er wahrscheinlich gedankenlos, so wie sie Spülmitteclass="underline" Was ihr gerade in die Hände fällt oder ein Angebotsschild trägt.

Einstweilen ist sie mit ihrem Tun zufrieden. Auch mit der Umgebung: Das Bad ist vielleicht nicht ganz so proper, wie sie erwartet hat, aber es liegt keine schmutzige Wäsche herum, und soweit ein schneller Blick über die Schulter darüber Aufschluss gibt, scheint er nach dem Baden die Haare aus dem Abfluss zu entfernen.

Dann kommt das Abwaschen der Seife und verlangt nach doppelter Aufmerksamkeit. Anderthalb Minuten, schätzt sie, läuft das Wasser jetzt — selbst wenn Thomas Weidmann das anhaltende Rauschen bemerken sollte, wird es kaum seinen Verdacht erregen.

Ausdrücklich denkt sie nicht: Wenn der wüsste …, sondern wischt sich Schaum aus den Achselhöhlen, so gut es geht, und verreibt den Rest mit dem zweiten Handtuch. In sanften Wellen wird ihr Pulsschlag stärker und wieder schwächer. Erst als ihr Blick auf seine Zahnbürste fällt, erlaubt sie sich die Frage, was es für ihre Situation bedeutet hätte, wenn ihr Blick auf zwei davon gefallen wäre.

Mit der Suche nach einer Antwort hält sie sich nicht auf. Sie hat das Gefühl, einer Mutprobe ausgesetzt zu sein und sie fast bestanden zu haben, und hält es deshalb für eine schlechte Strategie, jetzt Szenarien des Scheiterns zu entwerfen. Es lauern noch genug Stolperfallen außerhalb des Bades, aber um dieser Herausforderung überhaupt begegnen zu können, muss sie sicher sein, dass keine unerwünschten Körpergerüche Thomas Weidmann anwehen, wenn sie ihm auf dem Balkon gegenübersitzt. Sie braucht ein Frisch-gewaschen-Gefühl. Anitas Parfüm ist bei ihr, sie hat es sich am Nachmittag ins Handschuhfach gelegt. Derzeit ist ihr Verhalten wagemutig, aber nicht übermutig, und das ist die Richtung, der sie auch weiterhin folgen wird. Dem entspricht es, wenn sie zwischendurch einen Streifen Zahnpasta auf die Zeigefingerspitze nimmt und auf den Zähnen verreibt, vom Gebrauch seiner Bürste aber absieht.

Dann nimmt sie sich das zweite Handtuch von den Schultern und beendet die Aktion. Beide Handtücher wandern in den Wäschekorb, sie steht nackt, trocken und sauber in Thomas Weidmanns Bad und erlaubt sich einen Moment des Innehaltens vor dem Ankleiden. Zwei Sekunden, wie für einen Erinnerungsschnappschuss mit bloßem Auge: Was sie gerade getan hat, hätte sie vor einem Monat nicht getan. Das mag ein gutes oder schlechtes Zeichen sein, aber für den Moment fühlt es sich richtig an. Jetzt noch den Slip in die Handtasche, ein Aufschütteln der blonden Mähne, dann zieht sie die verbliebenen zwei Kleidungsstücke wieder an, schlüpft in ihre Sandalen, drückt auf die Klospülung und hat noch zehn Sekunden, um das Bad ohne Ablenkung in Augenschein zu nehmen.

›Dezent‹ wäre das Wort. Das Bad eines Mannes mit sachlich nüchterner Einstellung zu den hierin vorgenommenen Verrichtungen und folglich auch zu sich selbst. Bläuliche Kacheln, weiße Decke, saubere Armaturen. Zwei Sorten Shampoo in einer Ecke aus Wannenrand und Zimmerwand, und wie alle Männer benutzt er keinen Waschlappen — wohl aufgrund der Synonymität zu ›Schlappschwanz‹. Jedenfalls sieht sie keinen. Das Bad passt zu Thomas Weidmann, auch darin, dass es so wenig über ihn verrät. Er ist weder eitel noch uneitel, weder extravagant noch gewöhnlich, weder selbstverliebt noch frei von der Neigung dazu. Der einen Frau bringt er Blumen, und mit der anderen trifft er sich in einem Bumsclub in Nieder-Enkbach. Darin liegt eine Stimmigkeit, die ihr aber in der Kürze des Augenblicks nicht greifbar ist. Ein Ausgleich von Gegensätzen vielleicht, auch der Gegensätze seiner Neigungen, und das Ergebnis ist eine von Spannungen durchzogene Kohärenz seiner Person: Er widerspricht seinem Charakter nicht mit dem, was er tut, aber er tut es gegen einen inneren Widerstand.