Er holt Luft, aber sie kommt ihm zuvor:
«Haben Sie gewusst, dass ich nicht alleine da war, sondern … Ich meine: Haben Sie sie gesehen?«
«Beim Rausgehen, ja.«
«Sie werden das für sich behalten, nicht wahr?«
«Selbstverständlich. Und Sie schulden mir wirklich keine Erklärung. Wir sind da in eine gegenseitige Mitwisserschaft geraten, die uns in meinen Augen zu nichts verpflichtet außer Diskretion.«
Auch das nimmt sie mit einem Nicken zur Kenntnis, das nicht unbedingt Zustimmung bedeuten muss. Eine Strähne ihres blonden Haares wird vom Zeigefinger hinters Ohr geführt.
«Trotzdem«, sagt sie,»und ohne indiskret sein zu wollen, aber Sie meinen eigentlich nicht, ich schulde Ihnen keine, sondern: Sie würden sich ungern mit einer belasten, oder? Einer Erklärung. Ich frage nur, weil Sie den Satz schon mal gesagt haben, auf meiner Terrasse, als es um Daniel ging.«
«Dann beantworten Sie mir eine Frage: Wie viel von dem, was wir tun, können wir wirklich erklären? Ich meine: So, dass es nicht nur andere überzeugt, sondern auch uns selbst.«
«Wenig. Aber das heißt nicht, dass sich der Versuch nicht lohnt, oder?«
Für einen Moment erinnert sie ihn so sehr an Konstanze, dass es ihm wie eine Anmaßung vorkommt. Wie sie ihm Recht gibt und trotzdem Recht behält, auf eine Art, die nur Frauen beherrschen, nämlich im Wortsinn: als wäre es vollständig ihr Recht, und sie teilte ihm die Portion zu, die sie für angemessen hält. Eine kleine Portion natürlich, Männer kriegen im eigenen Interesse nur teelöffelweise von dieser Medizin mit Suchtpotenzial. Und das nachgeschobene ›Oder‹ ist auch keine Frage, sondern einer dieser leichten Schläge auf den Hinterkopf, die angeblich die Intelligenz erhöhen. Aber was er empfindet, ist nicht Ärger, sondern die fast nicht zu bezwingende Lust zur Kapitulation. Auch die kommt ihm bekannt vor, und deshalb gibt er ihr nicht nach — im eigenen Interesse.
«Möchten Sie es also versuchen?«Die ganze Woche über hat er einen bestimmten Text vor sich gehabt oder zumindest eine bestimmte Art, ihr den vorzutragen, und zu keinem Zeitpunkt sind ihm Zweifel gekommen, seine Worte würden ihr willkommen sein und sie beruhigen. Eine Woche lang hat er sich in Gedanken an die verschreckte Frau gewandt, die ihr Leben gegeben hätte dafür, hinter der Holztheke des Bohème im Boden zu versinken. Hat sich selbst in der Rolle des Trösters gesehen und sie an seine Schulter gelehnt, zu Tränen gerührt von so viel Verständnis. Aber er hat sich getäuscht — Kerstin Werner stellt Bedingungen, bevor sie sich trösten lässt. Statt seine Diskretion zu würdigen, leuchtet sie hinein in diesen doppelten Boden zwischen dem, was er sagt, und dem, was er meint. Oder was sie glaubt, was er meint. Statt einfach ihm zu glauben. Frauen!
«Nein danke«, sagt sie kurz und bestimmt. Weit zurückgelehnt sitzt er ihr in seinem Stuhl gegenüber, als würde er auf diesem winzigen Balkon auf maximale Distanz gehen wollen. Wie immer ist sie zu forsch, wenn sie versucht, im tiefen Gelände ihrer eigenen Unsicherheit voranzukommen. Zu direkt. Dabei fühlt sie sich gar nicht unwohl in seiner Gegenwart, höchstens ungeduldig, bestrebt, ihm etwas mitzuteilen, worüber sie sich aber selbst nicht ganz im Klaren ist. Warum muss das so kompliziert sein, möchte sie ihn fragen, wo sie beide doch wissen, dass dieser dämliche Abend im Pärchenclub auf ihnen liegt wie ein Schatten, den sie durch ein paar offene Worte vertreiben könnten. Es müssten gar keine intimen Geständnisse sein. Sie ist nicht wild darauf zu erfahren, was ihn, wie er sagt, nach Nieder-Enkbach ›getrieben‹ hat. Lieber würde sie einfach erzählen und zuhören, schließlich ist er der Einzige, mit dem sie überhaupt über diesen Abend sprechen kann, aber Männer tun immer so, als wäre nackte Wahrheit die einzig zugelassene Form von Ehrlichkeit. Als müsste es immer gleich weh tun. Warum kann sie nicht mit ihm reden wie mit Karin auf der Rückfahrt nach Bergenstadt: Tastend und vorsichtig, in kurzen Sätzen mit langen Pausen, um Schonung bemüht und dennoch offen. Karin war ebenso durcheinander wie sie, als sie endlich ins Auto stieg, die Hände aufs Lenkrad legte und eine Weile schweigend ins Leere stierte. Reagierte mit keinem Wort, als Kerstin ihr erzählte, der Klassenlehrer ihrer Kinder sei ebenfalls im Müller’schen Partykeller gewesen. Eine Minute lang musste sie in der Handtasche suchen, bevor sie ihren Schlüssel fand und den Wagen durch menschenleere Gassen Richtung Ortsausgang lenken konnte. Und wenn schon, sagte sie erst, als sie zwischen grünen Schallschutzwänden durch Gießen fuhren.
Und jetzt? wollte Kerstin wissen und betrachtete mehrere Kilometer die Hände in ihrem Schoß, bevor vom Fahrersitz die Antwort kam: Weiß ich auch nicht. Da lag draußen wieder die bedrückende Dunkelheit nächtlicher Felder und machte das Schweigen unerträglich. Hast du wirklich …? Sie fragte nicht aus Neugierde, sondern aus Notwendigkeit, und Karin Preiss verstand das und sah sie zum ersten Mal an beim Sprechen: Glaub schon.
«Jedenfalls«, setzt sie an, ohne zu wissen, ob ihre Worte passen auf das, was zuletzt gesagt wurde und was ihr sowieso entfallen ist. Hauptsache reden.»… beruhigt es mich zu erfahren, dass diese Viktoria nicht Ihr Typ ist. Falls ich so viel schließen darf aus …«Darf sie wahrscheinlich nicht, und woraus auch, aber er nickt sofort.
«Absolut.«
Ein Lächeln schenkt sie ihm dafür, mehr hat sie gerade nicht.
Und er lächelt zurück, der verschlossene Veilchen-Bringer. Immerhin. Sie weiß nicht, ob es seine Schuld ist oder ihre, dass ihr Gespräch so schnell diesen Weg eingeschlagen hat, der ausweglos in eine Sackgasse führt. Mitten in einer lauen Sommernacht sitzen sie und trinken Wein, aber der Campingtisch steht zwischen ihnen wie der Schlagbaum einer Grenze.
«Ich war an der Schule«, sagt sie,»aber ich habe mich nicht getraut reinzugehen. Heute Nachmittag.«
Irgendwann, mitten auf der Landstraße, hat Karin Preiss angehalten, ist ausgestiegen und hat das Verdeck des Autos geöffnet. Ist nicht mal rechts rangefahren dazu. Etwas Melodramatisches lag in diesem abrupten, wortlosen Tun, fand Kerstin, aber danach war es besser. Windiger. Baumwipfel, Sterne, Laternen, sie saß mit dem Kopf im Nacken auf dem Beifahrersitz, für die Dauer einer Stunde beruhigt von der Gleichmäßigkeit der Bewegung. Und würde der Balkon nicht an der Vorderfront dieses Hauses kleben, denkt sie, sondern frei durch die Nacht gondeln, wäre es auch jetzt leichter.
«Ich hab Sie gesehen, und ich hätte natürlich rauskommen sollen, aber dann hat Herr Granitzny mich eingeladen, bei ihm im Büro das Fußballspiel zu sehen. Was auch immer ihn dazu bewogen haben mag.«
Eine Änderung seines Tonfalls glaubt sie zu bemerken. Etwas mehr Einladung, ein bisschen weniger Abgrenzung.
«Sie meinen: Herr Granitzny interessiert sich für Fußball? Nein.«
«Nein, natürlich nicht. Er … was ist das Wort? Er bezeugt seine Anteilnahme an Dingen, die gesellschaftliche Relevanz besitzen, und schafft es dabei, vor sich selbst zu verbergen, dass er in Wahrheit mit Leib und Seele bei der Sache ist.«
Sie sind beide dankbar für den Themenwechsel, und während Weidmann erzählt, fühlt Kerstin sich tiefer in den Balkonstuhl sinken. Von den Bäumen im Landratsamtpark weht in Brisen kühlere Luft heran wie aus einer geheimen Quelle. Vorhin, anlässlich ihrer deplatzierten Bemerkung über Viktoria, schien ihr, Thomas Weidmann unterdrücke den Drang, die Anspannung des Moments in einem Lachen aufzulösen, auf Kosten dieser Frau, über die er ja ebenso gut einen billigen Witz hätte machen können. Hat er aber nicht, und jetzt im Nachhinein ist es diese Souveränität, die ihr so männlich an ihm vorkommt.
«Sie hätten ihn beim Ausgleich sehen sollen. «Er ist kein guter Imitator, aber ein genauer Beobachter: Granitznys Torjubel, die Schweißarbeit seiner Konzentration und die künstlich aufrechterhaltene Nonchalance seiner Nebenbemerkungen — sie kann sich das alles genau vorstellen. Und wenn er so intuitiv weiß, was sie lustig findet, denkt sie, dann sitzt ein Teil derselben Intuition vielleicht auch in seinen Händen. Hat schließlich beides mit Sensibilität zu tun und ist das Gegenteil jener Tollpatschigkeit, die sie an Männern nicht ausstehen kann.