Выбрать главу

Im Übrigen weiß sie: Ihrem Lachen ist anzusehen, dass es zwar nicht gespielt, aber auch nicht spontan ist, sondern der bewusste Versuch, Weidmann für seine Erzählung ein Dankeschön zu bezeugen. Automatisch moduliert sie ihr Lachen, und er reagiert ausgesprochen präzise: Beschränkt die Imitation auf ein paar Grimassen und macht ironische Kommentare, sowohl zum Spiel als auch zu Granitznys Art, sich dafür zu begeistern. Mit anderen Worten: Sie flirten. Erste kleine Einsätze auf Rot werden gewagt. Kassiber mit wortlosen Subtexten gehen hin und her. Und so plötzlich wie die Atmosphäre des Gesprächs schlägt ihre Stimmung um in eine Freude, die vielleicht ebenso naiv ist wie die des fußballbegeisterten Schulleiters. Laue Nacht und kühler Wein, und der Mann ihr gegenüber trifft den Ton mit einer Sicherheit, die weder traumwandlerisch noch zufällig ist, sondern Ausdruck seiner Feinfühligkeit. Gepaart mit Intelligenz. Der Balkon ist eine Gondel, beginnt leise zu schaukeln, so wie die Sessel des Lifts auf der Sackpfeife.

«Sie können gut erzählen«, sagt sie, als er fertig ist.

«Diese Frau, Viktoria«, erwidert er ohne Übergang,»hatte ich vorher nie getroffen. Eine Bekanntschaft aus dem Internet. Der Club als Treffpunkt war ihre Idee, ich hatte den oder einen anderen Ort dieser Art vorher noch nie besucht. Tja. «Sein Schulterzucken wirkt nicht ratlos, sondern eher so, als wollte er durch kurze Bewegung testen, ob eine gewisse Last von ihm genommen sei. Bitte sehr, Sie wollten es ja unbedingt wissen. Sind Sie jetzt zufrieden?

Wieder bleibt ihr nur ein Nicken. Die Gondel steht, der Wind weht weiter. Betrogen fühlt sie sich nicht, aber überrumpelt, und für einen Moment hat sie einfach nicht das passende Gesicht parat. Irgendwo in den Lahnwiesen brennt ein Lagerfeuer. Und war da eine Andeutung von Schlussstrich in seiner Bemerkung?

«Finden Sie nicht auch«, fragt er,»dass dieses Wort ›Internetbekanntschaft‹ einen merkwürdigen Klang hat? Auf entlarvende Weise zeittypisch, unernst und irgendwie secondhand? So eine Art Symptomwort.«

«Besser als ›Katalogbekanntschaft‹«, sagt sie ohne nachzudenken, während das Wort ›Internetbekanntschaft‹ in ihr genau die Art von nebulösem Unbehagen verbreitet, auf die er angespielt hat. Will er sich ihr erst einmal von seiner drittbesten Seite zeigen, um nicht eines Tages gezwungen zu werden, seiner besten treu zu bleiben? Noch einmal, und diesmal mit einer mehr versöhnlichen als fordernden Geste, schiebt sie ihm ihr leeres Glas hin. Der Alkohol dämpft ihre Enttäuschung, erstickt sie geradezu im Keim neuer Hoffnung. Vielleicht wollte er das nur hinter sich bringen, um nicht später in einem noch ungünstigeren Moment drauf gestoßen zu werden.

«Zum Wohl«, sagt sie. Sie hat ein Kind großgezogen, sie weiß, was Geduld heißt. Aber mit secondhand wird sie sich nicht zufriedengeben.

Erst später, als sie erzählt, wie es zu ihrem Besuch im Club kam, beginnt er dunkel zu ahnen, dass er sich noch einmal getäuscht hat. Immer ist sie ihm einen Schritt voraus, besonders dann, wenn er glaubt, sie zu überraschen. Bemerkungen, mit denen er gehofft hat, einen Effekt zu erzielen, laufen ins Leere ihres Nickens, so als würde er genau dann einem bestimmten Bild von sich entsprechen, das sie vorzöge revidiert zu sehen. Zwischendurch gibt ihr Lächeln ihm kleine Navigationshilfen, aber die meiste Zeit segelt er blind auf einem immerhin freundlichen Gewässer, fühlt sich ratlos, aber nicht unwohl und sagt sich gelegentlich, dass er schließlich kein Ziel verfolgt. Alkohol war schon immer ein verlässlicher Komplize im schwierigen Geschäft des Selbstbetrugs.

Und Kerstin Werner sagt:

«Natürlich war ich neugierig, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass diese Neugier selbst bereits, wie Sie sagen würden, eine Art Symptom ist. Ich meine: Unter anderen Umständen …«Sie hat sich inzwischen seitlich in den Stuhl geschmiegt und beide Füße auf die Kante der Sitzfläche gelegt. Eine Hand hält das leere Glas und die andere den Saum des Kleides, so dass die hellen Gipfel ihrer Knie nicht darunter hervorschauen. Er sitzt und schaut und wartet auf den Moment, da sie mit der freien Hand ihre Haare zurückstreichen wird, sachte gegen die Strömung der Nacht.

«Es liegt nichts Beschämendes darin, alleine zu sein«, sagt er und erschrickt im selben Moment über seine Worte.

Ihr Rücken wird sehr gerade.

«Das glauben Sie nicht wirklich.«

«Nein. Aber es stimmt trotzdem. Es stimmt, weil aus dem Gegenteil nichts folgt, das einem weiterhelfen würde. Wir neigen bloß dazu, uns viel mehr Verantwortung aufzuhalsen, als uns eigentlich zukommt. Und dann machen wir aus der Verantwortung Schuld. Schließlich Selbstvorwürfe. Wir schämen uns, obwohl niemand, der bei klarem Verstand ist, von uns diese Scham verlangen würde. Denn dass wir alleine sind, bedeutet ja gerade, dass es niemanden interessiert, ob wir uns schämen oder nicht. Verstehen Sie, was ich meine?«

Ohne zu zögern, sagt sie» Ja«, erkennt die aufrichtige Intention seiner Worte an und sieht von einer Prüfung des Inhalts ab. Ein großer Schritt nach vorne. Als sie kurz darauf sein Bad benutzt, geht er in die Küche und legt eine zweite Flasche Riesling ins Eisfach. Die letzte Stunde vor Mitternacht ist angebrochen. Den ganzen Abend haben sie grölende Heimkehrer in den Straßen singen gehört. Lauthalsige, vollmundige Triumphgefühle in Schwarz-Rot-Gold. Morgen werden die Zeitungen vom ersten Sieg seit vielen Jahren über einen sogenannten Großen schreiben, als wäre die deutsche Fußballnationalmannschaft ein Fünftklässler, der seit der Einschulung regelmäßig auf dem Schulhof verkloppt wird. Ein kollektiver Tommy Endler sozusagen. Weidmann geht zur Küchenspüle, wäscht sich das Gesicht und spült den Mund aus. Entweder sie kommt aus dem Bad und kündigt ihren baldigen Aufbruch an oder …

Oder sie werden es tun, Punkt. Als er die Badezimmertür hört, verschränkt er die Arme und schließt für einen Moment die Augen, hört Kerstin Werners barfüßige Schritte im Wohnzimmer und dann in der Balkontür ihre erstaunte Stimme:

«Nanu?«

«Hier«, ruft er durch den Flur.

Vielleicht ist es, weil sie barfuß läuft: Als sie durchs Wohnzimmer zurück in die Küche kommt, weiß er genau, dass sie nicht vorhat, demnächst nach Hause zu gehen. Und dass ihr so klar ist wie ihm, worin die Alternative besteht. Ein Gedanke ohne Triumph, beinahe ohne Erregung. Zur hintergründigen Banalität des Ganzen gehört schließlich, dass man vorher nicht weiß, ob man sich hinterher besser oder schlechter fühlen wird. In welche Art von Stille man aus dem Taumel erwacht und ob Taumel überhaupt das richtige Wort ist für die beim ersten Mal immer jähe Intimität.

«Ich hab noch eine Flasche kalt gestellt«, sagt er.»Dauert einen Moment.«

Sie nickt und steht einen Meter entfernt von ihm. Reglos in Reichweite. Verreibt die Feuchtigkeit ihrer Hände und sagt:

«Sie hatten einen langen Tag. Sie müssen sagen, wenn ich gehen soll.«

«Ich will nicht, dass Sie gehen.«

Sie legt den Kopf schief, zum ersten Mal offen kokett, und der kleine Schritt, den sie auf ihn zu macht, reicht aus, um ihre Hände zusammenzuführen. Die Kuppen ihrer Finger streifen über seine Handflächen, bevor sie sich mit den anderen Fingern verschränken. So stehen sie still für einen Moment, ein Zwei-Personen-Rahmen für den enger werdenden Raum zwischen ihren Körpern. Spielraum. Der Impuls zurückzuweichen wird darin gefangen und löst sich auf. Bis gerade eben hätte er sich noch so oder anders entscheiden können, jetzt sind sie für einander unausweichlich geworden. Nah genug, dass er außer Parfüm das Aroma ihrer Haut und Haare erahnt, ein Fluidum aus offenen Poren. Bis zu ihren Handgelenken reichen seine Daumenspitzen, fahren über Puls und Sehnen, erahnen das Echo eines fernen Herzschlags. Wegen der Dunkelheit in der Küche bleibt ihr Blick höhlenhaft, ein Glimmen, das er als Bitte um Sanftheit versteht.