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«Da tanzen zwei Frauen. Und da hinten noch zwei. Ist das normal in Bergenstadt?«

«Notlösung wahrscheinlich. «Anita Becker erkannte er von weitem, im gewohnt schrillen Outfit, aber die schien mit ihrer Tanzpartnerin noch die Schrittfolge zu verhandeln.

«Und wenn nicht, ich meine: Darf man hier offen lesbisch sein?«

«Mir ist kein Fall bekannt. Aber falls du die da in dem komischen schwarzen Dress meinst, mit der blonden Tanzpartnerin, die ist garantiert nicht lesbisch. Das können dir hier zwei Dutzend Männer bestätigen.«

«Auch noch so ein Alptraum von mir: dass alle, mit denen man mal was hatte, sich untereinander kennen und beim Bier ihre Erfahrungen austauschen.«

«Provinz«, sagte er.»Es waren aber, wenn ich das richtig verstanden hatte, in deinem Fall auch keine zwei Dutzend.«

Konstanze zuckte mit den Schultern, und er wischte den Gedanken beiseite und verfolgte Anita Beckers Tanzbewegungen, die nicht den Eindruck erweckten, als sei sie mit vollem Einsatz bei der Sache. Zwei oder drei Mal waren sie sich in seiner Kölner Zeit an der Uni über den Weg gelaufen, sie mit unverhohlener Verachtung für den Möchtegern-Intellektuellen, er mit verhohlenem Neid auf ihr Liebesleben beziehungsweise auf das, was er aus dem Bergenstädter Klatsch darüber zu wissen glaubte. Die Partnerin kannte er nicht; blond und gutaussehend, so weit er das durch Schwaden bläulichen Dunstes ausmachen konnte.

«Ganz plötzlich«, sagte Konstanze,»hab ich keine Lust mehr.«

«Wir schauen uns noch das Feuerwerk an, und dann gehen wir.«

Aus Tausenden Kehlen wurden die letzten Zeilen des Grenzgangswalzers geschmettert, dann verschluckte der Jubel die Musik und füllte das Zelt wie einen prallen Ballon. Weidmann trank sein Bier aus und schaute sich um: Wenn Menschenmassen außer Rand und Band gerieten, hielt er sich lieber abseits. Nicht Teil dieser brodelnden Suppe sein, sondern still beobachten und sich bestätigt fühlen in der eigenen Randstellung — so hatte er es immer gehalten. Konstanze nannte es sein Distanz-Syndrom und arbeitete auf ihre Weise daran, es ihm auszutreiben: gab nicht nach, ließ bloß zwischendurch mal locker. Und nickte verständnisvoll, wenn er behauptete, nach Abzug der Hormone sei Liebe schließlich auch nur eine besonders virtuose Form von Geduld.

«Vielleicht täuschen sich zwei Dutzend Männer einfach mal«, sagte sie jetzt,»jedenfalls haben sie sich gerade geküsst.«

«Haben sie?«Seine Augen suchten nach dem Pärchen auf der Tanzfläche, aber als er sie fand, standen sich die beiden auf eine Weise gegenüber, die nicht nach dem Austausch von Intimitäten aussah.»Sicher?«

«Auf den Mund.«

«Show«, sagte er. Die Musik war verklungen, der Jubel verebbt, und während die Tänzer das Podium verließen, trat der Kapellmeister ans Mikrofon und kündigte den Beginn des Feuerwerks an. Alle sprangen von Tischen und Bänken. Wie durch den Hals eines Trichters strebte die Zeltbelegschaft nach draußen.

«Gehen wir auch. «Sie zog an seiner Hand, und weil ihm der Satz von ihren gemeinsamen Kinobesuchen bekannt war, sagte er, was er dann immer sagte:

«Ich will noch den Abspann sehen.«

Nackt und im schmutzigen Weiß alter Laken blieben die Zeltwände zurück, nachdem sich die Massen verflüchtigt hatten. Er hielt Konstanze im Arm, ihren Hinterkopf an seiner Schulter, so dass sie nicht mitbekam, wie ihm plötzlich der Schweiß auf die Stirn trat und über die Schläfen lief. Das Zelt stank. Einzelne Betrunkene dösten auf den Bänken, zwischen denen Mitarbeiter der Bewirtschaftung nach Gläsern und Flaschen suchten. Auf einmal konnte er die Stimmen der Musiker hören, die sich auf der Bühne unterhielten, aber warum das die Übelkeit in seiner Kehle verstärkte, wusste er nicht. Von draußen wehten die chaotischen Laute des Rummels herein und das erwartungsvolle Summen der versammelten Menge. In Konstanzes Haar hing Tabakgeruch. Ein dummer Hund war er, dass er sich so mitreißen ließ von der elenden Leere, die eine Horde Betrunkener im Zelt zurückgelassen hatte, und trotzdem: Die Schäbigkeit setzte ihm zu. Auf dem Podium, allein, sah er Anita Beckers Tanzpartnerin von vorher, die mit starrem Blick die Szenerie beobachtete, als könnte auch sie nicht fassen, was sie sah — nichts. Gelesen hatte er von solchen Momenten begriffslosen Horrors, aber er erlebte es zum ersten Mal. Die Hässlichkeit sprang ihm ins Gesicht, und hätte er nicht mit dem Rücken gegen diesen Pfosten gestanden, von dem ihm Kondenswasser in den Kragen lief, er wäre einfach nach hinten umgefallen.

«Was?«, fragte Konstanze.

«Hm?«

«Du quetschst meinen Arm.«

Er löste den Griff, und sie drehte sich um, aber ins Gesicht sehen wollte er ihr nicht. Hielt ihren Kopf gegen seine Brust, als würde er sie trösten. Dann explodierte draußen die erste Rakete, und er glaubte durch die Zeltplane hindurch den grünlichen Magnesiumschein am Himmel zu erkennen. Ein langes» Ahhh «stieg aus tausend Kehlen in die Nacht. Er wünschte, ein gepacktes Auto stünde vor dem Haus seiner Eltern und sie könnten heute Nacht noch losfahren. Weg, nur weg. Aber er stand wie immer: Mit beiden Füßen auf dem Boden und dem Rücken zur Wand, gelähmt und bereit. Denn was kommen würde, würde kommen, langsam oder schnell.

Er war schließlich kein Feigling, er ließ sich lieber frontal erwischen.

* * *

Im blassen Blau des frühen Morgens sickert Licht durch die Vorhänge. Sie hat geträumt, und der Traum ist wie eine Blase geplatzt, und jetzt breitet sich das Wissen um sie aus, nackt in einem fremden Bett zu liegen. Ein süßer Schock lässt sie mit offenen Augen erstarren, und automatisch atmet sie tief und gleichmäßig weiter, als schliefe sie noch. So tief und gleichmäßig wie Thomas Weidmann neben ihr. Es ist ein anderes Zimmer, in dem sie aufwacht, ein Raum mit scharfen Konturen, nicht mehr das Schattenreich des gestrigen Abenteuers, sondern ein Ort im Hier und Jetzt. Ohne sich zu rühren, wandert sie mit den Augen die Wände entlang, über den Kleiderschrank, auf dem ein Koffer liegt, zur Kommode neben der Tür. Helle Tapete ohne Bilder. Sie horcht auf den Atem hinter sich und schließt aus einem Kitzel an ihrer Schulter, dass sein Gesicht ihr zugewandt ist. Sie spürt also den Atem eines Mannes auf der Haut, und das ist ein schwieriges gutes Omen, ein Signal, das sie vorerst weiter still liegen heißt. Eine Nacht bedeutet gar nichts, aber der Morgen hat kaum begonnen, das ist ihr Glück und ihre Folter, während sie mit einem namenlosen Sinn ihr Inneres abtastet nach den Spuren des Geschehenen. Außer leichten Kopfschmerzen findet sie keine. Und dann, noch bevor sie sich dessen bewusst wird, kämpft sie schon gegen den Wunsch an, in ihrem eigenen Bett zu liegen, während der Tag heraufdämmert und ein Wecker auf dem Nachttisch zehn nach fünf zeigt.

Manchmal hasst sie ihre eigenen Wünsche. Entgegenzusetzen hat sie dem nur die Erinnerung an die vergangene Nacht, an den Akt selbst, aber dann kommt Daniel zur Hintertür ihrer Gedanken herein und fragt, ob sie ihn eigentlich dem Gespött seiner Mitschüler preisgeben wolle. Fragt es auf seine Art:

Willst du mich verarschen?

Gestern beim Mittagessen hat sie ihn zuletzt gesehen, später nur die Treppe runtergerufen, sie fahre jetzt ins Krankenhaus. Seine Worte lassen ihr keine Ausflüchte. Der da sachte gegen ihre Schulter atmet, ist sein Klassenlehrer, und sie hat keine Ahnung, wie sie das ihrem Sohn erklären soll. Zwischen dem Kummer und dem Nichts würden gewisse Poeten den Kummer wählen, aber zwischen dem Ärger und der Ruhe, wie sieht es da aus? Zwischen dem Konflikt und der Einsamkeit? Der Komplikation und der Einfachheit? Fest steht, dass sie nicht in diesem Bett liegen bleiben kann, bis der Morgen vollends angebrochen und Daniel aufgestanden ist und wissen wird, dass seine Mutter nicht nur lange weg war, sondern gar nicht nach Hause gekommen ist.