Sorgfältig tupft Kerstin die Filets trocken. Sie selbst hat das Tanzen sogar an der Uni studiert, und an manchen Tagen träumt sie immer noch von einem eigenen Tanzstudio. Kein Walzer- und Rumba-Geschiebe, wie es die Tanzschule Meier alle zwei Wochen im Bürgerhaus für die Jugend von Bergenstadt veranstaltet, sondern ein Studio für Jazz- und Bewegungstanz, echtes Training für junge Frauen, die das Leben noch vor sich haben. Ein großer heller Raum mit Spiegelwand, so wie der Übungsraum in Köln, mit einer langen Stange vor den Spiegeln, Bänken an der Seite, einer Stereoanlage mit großen Boxen. Davor eine Gruppe junger Mädchen in Stretchhosen und Trikots, verschwitzt auf dem Boden hockend, während sie die Musik aussucht, im Kopf die nächste Schrittkombination durchgeht und mit einem Ohr zuhört, worüber die Mädchen giggeln.
Mach dir nichts vor, hat Hans gesagt. Du hast es zwanzig Jahre lang nicht geschafft, so ein Studio aufzumachen. Und jetzt, wo Mutter bei dir einziehen soll, sprichst du von ›Plänen‹.
Dabei ist sie letzten Herbst tatsächlich losgegangen, um sich einen Raum anzusehen, den zweiten Stock über dem alten Modegeschäft Radheber, dessen Räume leer stehen, auch jetzt noch. Das ehemalige Lager im zweiten Stock. Man hätte die Wände neu machen und isolieren müssen, aber die Größe war ideal, und es gab zwei angrenzende Räume, aus denen man Umkleidekabinen hätte machen können. Sogar eine Toilette war vorhanden.
— Mit welchem Geld?
Sie hat ein bisschen angespart, aber Scheidungen von Selbstständigen sind finanziell immer schwierig, das hat der Anwalt ihr damals gleich als Erstes gesagt. Die haben zu viele Möglichkeiten, das eigene Monatseinkommen durch alle möglichen ›betriebsbedingten Kosten‹ nach unten zu drücken, auch wenn Jürgen natürlich jegliche Trickserei empört abgestritten hat. Er, der Aufrechteste unter den Aufrechten. Wenn sie wollte, könnte sie demnächst wieder eine Überprüfung und Angleichung der Unterhaltszahlungen verlangen, seine Kanzlei scheint gut zu laufen — aber sie will nicht. Und wenn sie ehrlich ist, hat sie an das eigene Studio auch nie wirklich geglaubt, sondern sich nur den Traum bewahren wollen, als Trost für gewisse Stunden. Ab und an eine Immobilienanzeige im Boten, ein Telefonat, und im Keller liegen auch noch Kataloge von Ausstatterfirmen, mit denen man sich in Verbindung setzen könnte wegen Schuhen, Trikots etc., was die Mädchen eben so brauchen würden. Freundinnen aus Kölner Tagen haben es gemacht und Erfolg gehabt.
— In Köln. Wie groß wäre der Interessentenkreis in Bergenstadt?
Es gibt Dinge, die geschehen nicht. Die bestehen aus zu vielen einzelnen Schritten: zur Bank gehen, einen Kredit aufnehmen, mit Firmen wegen der Renovierung verhandeln, einen Innenarchitekten konsultieren, ein Gewerbe anmelden, die Ausstattung aussuchen, ein Programm aufstellen, Kurse einteilen, Preise festlegen, ein Logo entwerfen, Handzettel drucken, Anzeigen schalten, und das alles, bevor sie zum ersten Mal den CD-Spieler auf Play stellt. Zu viele Hindernisse, jedes für sich genommen nicht groß, aber alle zusammen unüberwindlich. Es ist nicht Hans’ Schuld, sie hätte es einfach nie erwähnen sollen. Genau genommen sind sie ihr nämlich peinlich, diese Tagträume, die im selben Verhältnis zur Wirklichkeit stehen wie Wolken zur Erde.
Der Pfarrer im Zimmer ihrer Mutter spricht den Segen. HR 3 kündigt die Nachrichten an. Mit vierundvierzig macht man nicht plötzlich ein Tanzstudio auf.
Dann klingelt es an der Tür.
Klingeln ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass Daniel nicht einfach ins Haus schleicht und sich in seinem Zimmer verkriecht, sondern sein Eintreffen ankündigt und gewillt ist, die Begrüßung seiner Mutter über sich ergehen zu lassen — was er ihr an ihrem Geburtstag schließlich auch schuldig ist. Ansonsten verbietet sie sich überhöhte Erwartungen: Er wird kein Geschenk haben, und sie wird sich untersagen auszusprechen, dass seine Anwesenheit ihr Geschenk genug ist.
Sie trocknet sich die Hände. Wirft einen Blick auf den Veilchenstrauß, während sie lächelnd durch die Diele eilt. Wer könnte bloß …? Dann bricht wie ein angeschossener Verbrecher ihr Sohn durch die Dielentür. Sein verzerrtes Gesicht, eine bittere Grimasse, als wollte er sagen: Hier bin ich, Abschaum der Erde! Ohne stehen zu bleiben, wirft er seine Tasche in die Ecke und rauscht an ihr vorbei, die Kellertreppe hinunter. Wind weht durch die Diele, der Knall seiner Zimmertür lässt die Wände erzittern. Dann Stille, und noch bevor sie eine Stimme hört, weiß sie, dass draußen jemand vor der Haustür steht.
«Kerstin, bist du da?«
Ihr Exmann. Es ist ein Gefühl, als hätte sie zu schnell ein Glas Eistee hinuntergestürzt, während sie ihm entgegengeht und versucht, die Geschichte zu erraten, die er ihr jetzt erzählen wird, die Geschichte zu Daniels Gesicht. Seine linke Wange ist rot gewesen. Vielleicht wird es nötig sein, sehr laut zu werden.
Er steht auf halbem Weg zwischen Haus- und Gartentür. Hält die Autoschlüssel in der Hand. Sieht gut aus.
Im Türrahmen bleibt sie stehen und verschränkt die Arme. Der Durchzug weht ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, und sie lässt es geschehen.
«Wie geht’s dir?«, fragt er, aber sie findet es besser, die Rollen sofort zu verteilen.
«Was hast du mit ihm gemacht?«Sie neigt den Kopf, und ohne die Verschränkung ihrer Arme zu lösen, zeigt sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf ihre Wange, malt einen unsichtbaren Kreis darauf.
Er hält ihr mit den Handflächen eine Bitte um Geduld entgegen. Trägt Krawatte und ein blaues Kurzarmhemd, zeigt ihr seine behaarten, muskulösen Unterarme, scheint gut in Form zu sein, so wie er da steht: Die Sonne strahlt auf sein grauer, aber nicht dünner werdendes Haar, auf seinen kompakten Oberkörper mit der feinen Linie zwischen den Brustmuskeln, die sie nicht sehen kann unter Hemd und Krawatte, aber sie sieht sie trotzdem. Wie ein Netz mit Apfelsinen hält sie ihre Erinnerungen in den verschränkten Armen und fühlt, wie das Netz zu reißen beginnt, sieht sich schon in die Knie gehen und die Früchte einsammeln, die über den Boden rollen bis zu seinen Füßen. Tadellos polierte Schuhe.
«Erst maclass="underline" Herzlichen Glückwunsch … tja, zum Geburtstag«, hört sie ihn sagen und sieht ihm hart ins Gesicht. Verbietet sich jedes Nicken, jede Antwort.
«Sprechen wir hier draußen vor der Tür?«, fragt er.
«Willst du meiner Mutter Guten Tag sagen?«
Für einen Moment schließt er die Augen gegen die Sonne, und sie freut sich, dass er Kraft schöpfen muss. Nicht dass er es sich anmerken lässt, aber sie erkennt die schräge Falte auf seiner Stirn. Mit einem Ohr horcht sie hinter sich, in die Stille des Hauses, riecht den Duft ihres Shampoos. Steht sicher gegen den Türrahmen gelehnt.
«Also?«
«Hör mir zu. Was ich dir sage, klingt verrückt, und du wirst tausend Gründe finden, es nicht zu glauben. Leider stimmt es aber. Ich weiß es auch erst seit eben, seit ich in der Schule war, weil Granitzny mich angerufen und zu sich bestellt hat. «Er macht eine Pause und tritt einen Schritt zurück, versucht sie von der Türschwelle wegzulocken, von dem Sockel, auf dem sie steht. Sie streckt den Rücken.
Licht scheint auf den Rehsteig, als würde es von überall kommen.
So viel Sonne, denkt sie, verträumt für einen Moment und sieht Richtung Kreuzung, wo eine Gruppe Grundschüler vorbeizieht, bergauf zur Hornberger Straße. Ihr Süßen, würde Frau Preiss ihnen zurufen. Habt ihr was Schönes gelernt? Ihr gefällt der Gedanke, dass im Haus der Preissens ein Strauß von ihrem Flieder steht, sicherlich gut platziert vor einem der großen Frontfenster.