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Sie streckt eine Zehe unter der Decke hervor. Soll sie ihm sagen, sie sei im Krankenhaus gewesen? Aber lügen kommt nicht in Frage, Mütter lügen ihre Kinder nicht an, auch wenn sie sich gerade in diesem Moment wünscht, etwas weniger Mutter zu sein.

Und apropos Mutter.

Mit einem Fuß in der Luft dreht sie sich von der Seite auf den Rücken, sinkt ins Kissen und versucht, näher zur Bettkante zu rutschen. Ob ihre Mutter schon wach ist, und wenn ja: Wie wach? Thomas Weidmann macht eine Bewegung mit dem Arm, schläft aber weiter. Mit zur Seite geneigtem Kopf sieht sie ihn an und würde ihm gerne diese Strähne aus dem Gesicht streichen, die ihm das Aussehen eines wirren Professors gibt. Würde gerne die Schultern zudecken und mit der Hand über die Haare auf seiner Brust fahren. Und sie möchte nach seinem Schwanz fassen und ihn in der Hand halten, das ganze weiche, haarige Bündel in seiner unerregten Harmlosigkeit — zum Zeichen, dass mehr als Sex sie verbindet. Stattdessen sucht sie in seinem Gesicht nach Spuren ihrer Zuneigung. Befragt ihre Erinnerung nach der Lage ihrer Kleidungsstücke, es sind ja nur zwei, und die Schuhe stehen im Flur. Die Handtasche wahrscheinlich noch auf dem Balkon. Fragt sich, ob er beim Aufwachen erleichtert, traurig oder gleichgültig feststellen wird, dass sie gegangen ist. Hauptsache, er öffnet nicht die Augen, während sie durchs Zimmer schleicht.

Ohne die Decke zurückzuschlagen, windet sie sich aus dem Bett. Ihre Sachen liegen auf dem einzigen Stuhl, die muss er gestern auf dem Weg ins Bad dort platziert haben. Sie würde ihn gerne noch länger betrachten, aber sie hat das Gefühl, dass ihr Blick ein Kitzel auf seiner Haut ist, der ihn aufwecken wird, darum schlüpft sie aus der offenen Tür. Dann geht alles schnell, sie will nichts weiter, als nicht gesehen zu werden, auch im Treppenhaus nicht, im Garten, auf der Straße. Erst im Auto hält sie inne.

Reglos hängen Wolken am Himmel. Vögel zwitschern. Kein schöner Land, schießt ihr durch den Kopf, so zusammenhanglos wie der ganze Morgen. Im Rahmen ihrer Frontscheibe die morgenleere Grünberger Straße. Die Anwohner scheinen ihre Vorgärten auf ähnliche Weise zu behandeln wie sie selbst früher ihr Schönschreibeheft: Es muss ordentlich aussehen, weil es ordentlich aussehen muss. Die Schrift ist der Spiegel des Charakters, hat die Grundschullehrerin mit dem strengen Dutt ihr eingetrichtert. Deren Name ist verschwunden, ziert sicher einen Grabstein irgendwo im Sauerland.

Kerstin sitzt im Auto und hat das Gefühl, weinen zu müssen, bevor sie sich beruhigen kann. Oder erst ihren Tränen glauben zu können, wie aufgewühlt sie ist. Nicht mal eine Nachricht hat sie ihm hinterlassen.

— Benimmst dich wie ein Backfisch, der sich aus Versehen hat gehenlassen.

— Guten Morgen.

— Statt dich einfach zu freuen.

— Von wo schaltest du dich diesmal zu? Sie wirft einen Blick in den Rückspiegel, ordnet ihr Haar und zieht sich mit beiden Zeigefingerspitzen die Haut unter den Augen glatt. Weg mit den Tränen und dem hysterischen Getue! Anita hat ausnahmsweise Recht.

— Ausnahmsweise?

— Ich bin nie gewesen wie du und werde es auch nie sein. Für mich bedeutet das eben was.

— Und zwar etwas Positives in diesem Fall. Richtig?

— Vielleicht.

— Es sei denn, du machst es kaputt, bevor …

Sie dreht das Radio an gegen Anitas Stimme und sucht in ihrer Handtasche nach einem Pfefferminz. Der Wein macht sich in der Kehle mit leichtem Sodbrennen bemerkbar. Es ist Samstag, ihr Bruder wird kommen übers Wochenende, damit sie die Behandlung ihrer Mutter besprechen. Ein paar Tage werden sie unter einem Dach wohnen, schlecht und recht miteinander auskommen und sich damit abzufinden haben, dass am Ende … Behandlung hin oder her, danach kommt das Ende.

— Ich kenne dich, sagt Anita von Musik unterlegt: Deine Mutter wird sterben, und du wirst dir Vorwürfe machen. Ihr Tod gibt dir die Möglichkeit, dein Leben zu ändern, aber du wirst dich dadurch bestrafen, dass du die Möglichkeit nicht nutzt. Ganz so als ob du durch den Verzicht auf die positiven Konsequenzen deine Schuld tilgen könntest.

Überflüssig zu erwähnen, dass Anita so spitzfindig in Wirklichkeit überhaupt nicht ist.

– Überflüssig zu erwähnen, dass es gar keine Schuld gibt, die du tilgen müsstest.

Kerstin lässt den Motor an und rollt die Straße entlang bis zur nächsten Garageneinfahrt. Dort wendet sie. Immer noch keine Sonne über dem Schlossberg, und die Kastanien beim Landratsamt, die sie letzte Nacht vom Balkon aus gesehen hat, sehen blass aus im wolkengedämpften Licht. Einen Moment lang steht sie an der Kreuzung und überlegt, nach rechts abzubiegen, Richtung Stadt, um Brötchen zu kaufen fürs Frühstück. Ein einsamer Fußgänger kommt von dort den Kornacker herauf. Es ist, als ob sie tief durchatmen und Kräfte sammeln müsste für die einfachsten Entscheidungen, aber sie sitzt reglos hinter dem Steuer, bis der Fußgänger den schmalen Kiesweg überquert hat, der gegenüber der Grünberger Straße vom Kornacker abzweigt, an der Außenmauer des Landratsamts entlang, das gar kein Landratsamt mehr beherbergt, sondern die Kfz-Zulassungsstelle und das Kreisjobcenter. Aber den Park drum herum gibt es noch und ein paar Enten auf dem Teich. Dann bleibt der Fußgänger stehen und wendet den Blick, steht auf der anderen Straßenseite, ihr genau gegenüber, und durch die Frontscheibe hindurch sieht sie ihren Sohn an.

Er trägt seine Jeansjacke gegen die morgendliche Kühle und hat eine Papiertüte der Bäckerei in der Hand. Schaut sie an ohne Erstaunen.»Uns liegen keine Meldungen über Verkehrsstörungen vor. Wir wünschen gute Fahrt. «Sie spürt das Auto nach vorne rollen und merkt dann erst, dass der Motor ausgegangen ist. Daniel legt den Kopf zur Seite. Fremd kommt er ihr vor, wie er da steht, mit der Brötchentüte in der Hand. Eine fremde Gestalt, die sich plötzlich in ihren Sohn verwandelt hat.

Weil sie nicht weiß, was sie tun soll, zieht sie die Handbremse an und steigt aus. Bleibt in der offenen Tür stehen, als müsste sie sich erst noch überzeugen, dass es auch wirklich ihr Sohn ist.

«Morgen«, sagt er. Vogelgezwitscher und feuchte Luft inmitten schlafender Häuser. Die leeren Parkbuchten vor dem Landratsamt.

«Morgen«, sagt sie.

Sein Gesicht ist es. Immer noch pickelig und unreif, aber ohne das Abweisende und Spöttische, stattdessen ruhig und mit einer Gefasstheit, die sie im nächsten Moment beunruhigen wird, aber jetzt nicht. Jetzt steht sie im schwarzen, ärmellosen Kleid in der offenen Autotür, hinter der sie sich das Kleid gestern angezogen hat auf dem Parkplatz der Sackpfeife. Manchmal sind es diese einfachen Dinge, die die eigenen Gedanken aus der Bahn werfen, über die man nicht hinwegkommt, das Banale und Verrückte, aus denen das Leben besteht, so wie alles andere aus Atomen und Molekülen.

«Du bist überraschter als ich«, stellt er zufrieden fest.

«Ja«, sagt sie nur.

«Und du stehst schlecht, mitten auf der Kreuzung.«

«Wo kommst du her?«

«Fahr erst mal da weg. «Mit dem Kinn zeigt er in die Grünberger Straße, aus der sich ein Fahrzeug nähert. Also noch einmal den Wagen anlassen, zehn Meter fahren, dann steigt Daniel ein, und während der halben Minute bis rauf zum Rehsteig redet nur das Radio. Singt, genauer gesagt. Vor dem Gartentor hält sie an.

«Also, wo kommst du her?«

«Aus dem Krankenhaus.«

Mit nervösen Fingern zieht sie den Autoschlüssel ab und sieht die Straße entlang, in der sie seit fast sieben Jahren wohnt. Die Dämonenkolonie Rehsteig. Sie lauern überall.