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«Was ist passiert?«

«Die haben angerufen, als du nicht da warst. Es gab ja gestern eine weitere Untersuchung, CT oder so ähnlich, und der Befund war nicht günstig. Irgendwo ist Blut, wo keins sein soll. Und kurz nach der Untersuchung hat Oma das Bewusstsein verloren. «Er hat die Tüte auf die Ablage gelegt und sich im Sitz zurückgelehnt, und sie weiß, dass er sie im Sprechen ansieht aus den Augenwinkeln. Was er sagt, hat er sich vorher zurechtgelegt. Es wird der längste Text, den er seit langem gesprochen hat, jedenfalls zu ihr. Sie hat eiskalte Finger, weiß alles und nichts, und wo sie die Nacht verbracht hat, spielt keine Rolle mehr.

«Gegen neun war das«, sagt er.»Also bin ich runtergegangen.«

«Ins Krankenhaus.«

«Sie haben ihr ein Einzelzimmer gegeben, und der Arzt meinte, wir könnten bei ihr bleiben.«

«Wir?«

«Ich in dem Fall.«

«Und jetzt — ist sie alleine oder ist sie schon …«

«Hans ist bei ihr.«

«Hans.«

«Ich hab ihn angerufen, bevor ich losgegangen bin. Heute Morgen ist er gekommen. Gerade eben.«

«Und du warst die ganze Nacht im Krankenhaus.«

«Ja.«

Danke, liegt ihr auf der Zunge, und dann sagt sie es doch nicht. Der Rehsteig bildet eine asphaltierte Schneise zwischen blühenden Gärten, und die Häuser der oberen Straßenseite sind nur in Ausschnitten zu erkennen hinter Geäst und Gesträuch. Morgendliches Zwielicht hängt bläulich und stumpf über den Grundstücken. Sie sucht nach einer Empfindung, die Daniels Worten entspricht, nach Angst, Schrecken oder Panik, aber für den Moment mag sie nur die Art, wie er mit ihr redet: ruhig und offen. Außerhalb des Autos wird die Luft erfüllt vom Gezwitscher der Vögel. Immer wieder springen ihre Gedanken aus der Bahn, vielleicht wacht Thomas Weidmann gerade auf, vielleicht wird ihr Bruder sie im Krankenhaus mit Vorwürfen empfangen, weil sie einen Sechzehnjährigen die Nacht am Bett einer Sterbenden hat verbringen lassen.

«Was hat Hans gesagt?«

«Nicht viel, es war auch noch kein Arzt da so früh.«

«Aber was hat er gesagt?«

«Ich hab ihn zum ersten Mal in meinem Leben heulen sehen, und irgendwie …«Er legt den Kopf schief, nickt und wägt ab in Gedanken.»Nicht aus Schadenfreude oder so. Ich wusste bloß nicht, dass er an seiner Mutter hängt.«

«Ich auch nicht.«

«Tut er aber. Er muss ja um drei Uhr nachts losgefahren sein.«

Sie dreht den Schlüssel so weit, dass die Elektronik des Autos funktioniert und lässt die Seitenscheibe an der Fahrertür herab. Brunners Zwergmispeln wuchern den ganzen Hang zu. Überall Vogelgesang, atonal und chaotisch. An ihre Mutter soll sie denken und liebt stattdessen ihren Sohn, dass ihr beinahe die Tränen in die Augen steigen. Über dem Schlossberg hellt sich derweil der Himmel auf zu einem ersten farblosen Scheinen. Wahrscheinlich ist dieses Fehlen von Erschrecken bereits ein Schocksymptom, eine Ausschüttung von Hormonen, die sich auf die entscheidenden Synapsen im Gehirn setzen und sagen: Schau doch mal, wie schön der Himmel. Irgendwann wird sie sie erreichen, die Realität mit ihrem niederschmetternden Gewicht, wird sie im vollen Lauf einholen und zu Fall bringen, aber jetzt, mit dem Ellbogen im Fensterrahmen und ihrem Sohn neben sich und — sie achtet nicht drauf, aber es ist dennoch da — einem ganz bestimmten Gefühl auf ihrer Haut, jetzt ist es, als würden Tod und Trauer an ihrer Tür klingeln, und sie wäre einfach nicht da.

«War es schlimm?«, fragt sie.»Im Krankenhaus?«

«Nein.«

«Was hast du die ganze Zeit gemacht?«

«Zeitschriften gelesen, aus dem Fenster geguckt, nachgedacht. Ich finde, du solltest mal fragen, wie ihr Zustand ist, Omas. Ich bin nämlich ziemlich gesund.«

«Wahrscheinlich hab ich Angst, es zu erfahren.«

«Hilft ja nichts.«

«Also?«Sie fährt ihm durch die Haare, und er lässt es geschehen.»Darf ich vorher noch Danke sagen für das, was du getan hast?«

Ohne ihren Blick zu erwidern, holt er einen Zettel aus der Hemdtasche.

«Es ist eine Sinusvenenthrombose. Hat man beim ersten CT nicht feststellen können, weil es ein … natives CT war. Jetzt beim Verlaufs-CT hat sich die Blutung gezeigt, genauer gesagt ein geplatztes Blutgerinnsel. Von der verstopften Vene vorher kamen wohl auch die Kopfschmerzen. Sie versuchen jetzt, das Blut zu verdünnen, um die Venen wieder durchlässig zu bekommen, aber erstens ist das riskant, und zweitens ist die Blutung ziemlich groß. Raumfordernd, nennt Schnösel-Doktor Hentig das. Und zur Prognose sagt er: Sehr ungünstig. «Noch einmal überfliegt Daniel den Zettel und faltet ihn zusammen.»Außerdem steht hier noch ›Mittellinienverlagerung‹, aber ich weiß nicht mehr, wo das hingehört.«

Das Licht über dem Schlossberg sieht aus, als würde die Sonne hinter einer Wand aus Papier aufgehen. Sie greift nach der Hand auf seinem Oberschenkel.»Wir frühstücken, und dann fahre ich zu ihr. Willst du Hans in deinem Zimmer schlafen lassen oder soll ich das Sofa im Wohnzimmer für ihn beziehen?«

«Als ob es nichts Wichtigeres gäbe«, sagt er und öffnet die Beifahrertür.

Sie wartet, bis er die Haustür aufgeschlossen hat, bevor auch sie aussteigt. Eine ganze Nacht lang hat sich der Eindruck eines nahenden Todes auf sein jugendliches Gemüt gelegt, in all seiner verstörenden Hässlichkeit. Währenddessen sie mit Thomas Weidmann geschlafen hat. Jetzt trägt sie an ihrem schlechten Gewissen wie an einer unhandlichen, aber nicht besonders schweren Last; sie muss nur häufig den Griff wechseln. Und dann wird es drauf ankommen, wie lang der Weg ist.

Kühl empfängt sie das Haus, die dämmrige Diele. Daniel ist in der Küche beschäftigt, und sie geht ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Betrachtet eine Weile das unbenutzte Bett. Sie wird frühstücken und dann das Sterbezimmer ihrer Mutter betreten, die Endstation, so wird es aussehen und riechen in seiner weiß getünchten Sterilität. Zum ersten Mal seit Jahren legt sie sich die Haare in einem Knoten um den Hinterkopf. Zieht eine Bluse an und einen dunklen Rock dazu.

In der Küche steht Daniel mit einem Kaffeebecher in der Hand gegen die Anrichte gelehnt.

«Seit wann trinkst du Kaffee?«

«Seit er mir schmeckt.«

«Solltest dich lieber ein bisschen hinlegen.«

«Bin nicht müde.«

«Und ist es nicht mehr üblich, dass wir am Tisch frühstücken?«Sie zeigt auf die Butterschale und die Marmeladengläser neben ihm. Gegenüber bei Meinrichs wird langsam ein Rollladen hochgezogen. Allgemeine Bettflucht in der hoffnungslos überalterten Anwohnerschaft des Rehsteigs.

Wortlos schiebt Daniel ihr die offene Brötchentüte hin.

«Offenbar willst du auch nicht wissen, wo ich die Nacht über gewesen bin. «Mit diesem Satz überrascht sie sich selbst. Sie will es ihm nämlich durchaus nicht sagen, oder will es doch, aber traut sich nicht, und kann trotzdem nicht widerstehen, an der Fassade dieser erwachsen wirkenden Diskretion zu kratzen, hinter der ihr Sohn sich verbirgt. Oder verbirgt er sich gar nicht? Ist das der Vorschein des neuen Antlitzes, das sich gerade aus der Schale seiner Unreife befreit und ihr beunruhigend souverän entgegenblickt?

«Nein«, sagt er und macht sich den Mund frei. Das Hemd, das er trägt, muss neu sein und signalisiert einen Fortschritt auch in seinem Kleidergeschmack.»Aber ich weiß, wer in der Grünberger Straße wohnt.«

«Und?«

«Und was?«

«Himmel, Daniel, deine Mutter ist ein Nervenbündel heute Morgen, merkst du das nicht? Sag was, mach einen Witz, sei böse auf mich, aber steh nicht so cool da, als wäre das alles nicht dein …«Dann weiß sie nicht, wie sie den Satz beenden soll. Geschäft? Kram?

«Leben?«, fragt er.

Kopfschüttelnd greift sie nach einem Brötchen und beißt hinein. Immerhin: Hunger hat sie. Ansonsten kommt Daniel ihr zwar verwandelt vor, aber die Rollen zu Hause sind trotzdem gleich geblieben, und sie verfällt immer wieder in diesen flehenden Mutter-Ton, den sie selbst nicht ausstehen kann. Und dann setzt er noch eins drauf und sagt einen Satz, den zu hören sie niemals, auch nicht in ihren wildesten Gedankenrallyes erwartet hätte. Einen Satz meilenweit jenseits des Punktes, an dem sie ihren Sohn vermutet hat: