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Wo der Weg nicht unter Bäumen entlangführt, trifft ihn die Sonne mit klebriger Intensität. Insekten stehen summend in der Luft, in merkwürdigen Konfigurationen. Sein Schweiß lockt Fliegen an. Je höher er steigt, desto üppiger wuchern die Pflanzen, verschwindet der Pfad unter Unkraut und hohem Gras. Zweimal glaubt Weidmann, von seinem Weg abgekommen zu sein, aber unter den Bäumen findet er die ausgetretene Spur im Boden wieder. Aus der sommerlichen Wanderung wird ein angestrengtes Stapfen im unübersichtlichen Gelände seiner eigenen Gedanken. Das Hemd klebt ihm am Rücken. Was würde Kerstin Werner denken, könnte sie ihn beobachten bei seinem Kampf mit sich selbst? Zwischen den Bäumen erkennt er bereits den kahlen Hang der Skipiste und an dessen Rand die Drahtseile des Lifts mit den langsam auf- und abwärtsgleitenden Sesseln. Es ist, als ob er auf einen Moment der Erleuchtung wartete, ein Platzen dieser Blase um ihn herum. Warum kann er sich nicht einfach untreu sein? Welcher perverse Drang befiehlt ihm festzuhalten gerade an jenen Eigenschaften, die er an sich am wenigsten schätzt?

Weidmann tritt aus dem letzten Waldstück, das sich zwischen zwei kegelförmigen Hügeln hinaufzieht. Nackt und gelblich ragt die Skipiste vor ihm auf. Der untere, steilere Teil liegt bereits halb im Schatten, der flachere darüber entzieht sich seinem Blick. Nur das Dach der Bergstation glänzt in der Sonne. Mit einer Hand über den Augen betrachtet er die Szenerie, die graue Schlangenlinie der Superrutschbahn, auf der gerade zwei Schlitten bergab sausen. Mit der Verzögerung einer halben Sekunde erreicht ihn das Juchzen der Piloten. Doppelsessel schweben leer über den Bäumen, die Bügel geöffnet. Flutlichtmasten stehen nutzlos entlang der Strecke. Eine Landschaft, die nach Schnee verlangt und jetzt unvorteilhaft aussieht, gerupft und ihres Zwecks beraubt. Wo die Rutschbahn in einem flachen Stück ausläuft und an zwei in den Boden eingelassenen Autoreifen endet, stehen die beiden Fahrer auf und wuchten die Schlitten aus der Spur. Einen Moment lang glaubt Weidmann in ihnen zwei Schüler zu erkennen, aber es sind Fremde. Geländer aus Holz laufen trichterförmig zusammen vor dem Lifthäuschen, wo sich im Winter die Skifahrer drängen und jetzt eine Männergestalt sich aus dem Schatten löst, die Zigarette austritt und den beiden beim Einsteigen in den Lift behilflich ist. Die Schlitten werden an einen Haken an der Rückenlehne gehängt.

Er wüsste gerne, was er erwartet hat, das ergäbe dann einen Maßstab, an dem der Moment sich messen ließe. So geht er ratlos die wenigen Schritte zum Lifthäuschen und fragt den Mann dort, ob man auch hier unten eine Karte lösen könne.

Der Gefragte schraubt seinen Flachmann zu und antwortet mit einer Bewegung des Kopfes. Das Hemd abgetragen, die Jeans ausgebeult, und andere Adjektive würden Weidmann für das Gesicht auch nicht einfallen. Während er ihm folgt, steckt er das Portemonnaie wieder ein. Von der Fensterbank des Häuschens aus erreicht ihn Radiomusik. Ein kühler Hauch weht den Hang herab. Steif wie vor dem Erschießungskommando, bloß mit dem Blick über die Schulter stellt er sich auf eine Steinplatte im Boden, dann schaukelt der Sessel heran, die Sitzfläche trifft ihn in den Kniekehlen, und eine Wolke billigen Cognacs hüllt ihn ein, als der Mann den Bügel schließt.

«Danke«, sagt Weidmann und schwebt davon. Nach wenigen Sekunden befindet er sich bereits auf Baumhöhe, dann nähert sich ein Summen, der Liftsessel rattert über die erste Stütze, und das Summen liegt hinter ihm. Ruhig und gleichmäßig zieht er durch die Luft. Hinter den Bäumen Bäume und hinter den Hügeln Hügel. Er wundert sich und weiß nicht worüber. Die Luft trägt ihm keine Geräusche entgegen, nichts außer ihrer eigenen porösen Bewegung. Über ihm ein metallischer Arm, der mit verschweißter Hand in den Draht greift — daran hängt sein Leben. Er rattert auf die nächste Stütze zu. Langsam taucht der flachere Pistenabschnitt vor ihm auf. Leere Doppelsessel kommen ihm entgegen, und auch vor ihm schweben sie in gleichmäßiger Reihe, lauter artgleiche Gebilde, nur durch Nummern auf den Rücklehnen zu unterscheiden. Unmittelbar vor ihm gondelt die 12. Instinktiv hat er sich in die Mitte seines Sessels gesetzt, so als würde er dem Gleichgewichtssinn der Konstruktion misstrauen, aber jetzt rückt er zur Seite, lehnt sich zurück, atmet langsam. Worüber er sich wundert, fällt ihm auf, ist die Empfindungslosigkeit, die ihn manchmal befällt, das plötzliche Einfrieren von inneren Regungen unter einer Art von Anästhesie, die alles außer der direkten Sinneswahrnehmung ausblendet. Ein emotionales Vakuum, aber das wiederum ist wahrnehmbar und reizt ihn, so wie man beim Zahnarzt nicht aufhören kann, das taube Zahnfleisch mit der Zungenspitze zu betasten. Ob das die spezifische Art ist, wie er alt wird, vor dem Einsetzen der körperlichen Gebrechen? Auf einmal treibt er durch die Stille wie durch einen Alptraum. Als würde dieser Doppelsessel ihn bis ans Ende seiner Tage durch eine bedeutungslose Landschaft tragen, den einzigen Fahrgast einer entvölkerten Welt. Und unten beim Lifthäuschen stünde der Teufel persönlich, lachte hohl und schickte ihm mit dem Flachmann ein Prosit hinterher.

Mit geschlossenen Augen kämpft er die Vorstellung nieder und weiß: Er müsste sein Leben ändern, damit es diesen Namen verdient, stattdessen treibt er zehn Meter über dem Boden durch ein verwaistes Naherholungsgebiet. Mit keinem Wort hat er Kerstin Werner bedeutet, dass er sie wiedersehen möchte. Und sie hat die Nachricht verstanden und sich im Morgengrauen aus der Wohnung geschlichen.

Als er die Augen wieder öffnet, schwebt er bereits der Bergstation entgegen. Rechts unter ihm beginnen die Parkplätze. Ein halbes Dutzend Autos verliert sich darauf, und vor der Skihütte sieht er Sitzgarnituren und Sonnenschirme, eine Handvoll Gäste. Die Sonne steht tiefer, als er erwartet hat. Der Boden kommt näher, ein Hinweisschild rät zum Aufklappen des Bügels, das nächste warnt vor dem Rausfallen: Rotes Dreieck um ein purzelndes Männchen.

Zu spät, denkt er.

Der Helfer beim Ausstieg riecht nach billigem Rasierwasser statt nach Cognac, ansonsten sieht er seinem Kollegen im Tal ziemlich ähnlich. Weidmann geht ein paar Schritte über abgewetzten Mattenboden. Die Bergstation steht auf einer Hügelkuppe, die links in einen flachen Sattel hinabführt, wo im Winter gerodelt wird. Weidmann hält sich in der Mitte des Hanges, folgt den Spuren im hohen Gras zur Skihütte. Die Telefonzelle daneben ist sein Ziel. Beruhigt stellt er fest, dass sich unter den Kaffeegästen vor der Hütte niemand befindet, den er grüßen müsste. Eine Großfamilie offenbar, zu der auch die beiden Rutschbahnpiloten gehören. Mit einem Nicken geht er vorbei. Sucht im Gedächtnis nach ihrer Nummer und findet sie. Er hat keine Ahnung, was er Kerstin Werner sagen will. Oder Daniel, falls der drangeht.

Die üblichen Obszönitäten zieren die Glaswände der Zelle. Jemand aus der Großfamilie muss eine Bemerkung über ihn gemacht haben, denn als er durch die Scheibe zurückblickt, begegnen ihm amüsierte Gesichter. Ein einsamer, nicht mehr ganz junger Mann, der am Wochenende Superrutschbahn fährt. Weidmann nimmt den Hörer von der Gabel und wirft fünfzig Cent in den Schlitz.

Wollte nur mal hören, wie’s dir geht.

Ich hätte dir gerne Kaffee gemacht.

Du hast was bei mir vergessen — mich.

Es tutet lange. Die Familie hat sich wieder von ihm abgewandt und wahrscheinlich beschlossen, den einsamen Spinner nicht zu provozieren. Die Doppelsessel des Lifts fahren auf und ab. Ist das, was er tut, bloß eine Kopflosigkeit, die auf überspannte Gedanken an einem Samstag Nachmittag folgt? Jedenfalls hat er schweißnasse Hände. Wie oft können wir erklären, was wir tun, hat er Kerstin Werner gefragt, gestern Abend auf seinem Balkon. Selten, aber der Versuch lohne sich trotzdem, hat sie gesagt. Und er denkt: Wie gut, dass es immer noch Worte gibt, die einen Anschein von Sinn erwecken. Die sich auf das Schweigen legen wie Herbstblätter auf einen Teich. So bunt, dass man das Schwarze darunter nicht sieht.