Выбрать главу

13

Sie hört den Schlüssel in der Haustür und gleich darauf seine Schritte im Vorflur, aber statt ihm entgegenzugehen, dreht sie nur das Radio leiser. Feuchte Hitze in der Küche lässt die Fensterscheiben beschlagen, durch die hindurch sie beobachtet, wie Kleinhenn sich mit Handschlag und Verbeugung von einem ihr unbekannten Paar verabschiedet: Eine ausgesprochen unästhetische Verbeugung, ein Einrollen über seinem Kugelbauch, und in Richtung der Frau vollführt, sieht es aus wie die Androhung eines Handkusses. Wieder mal Interessenten, die ersten seit Wochen, aber ob sie dabei sind, zu Kunden zu werden, lässt sich aus der Art des Abschieds nicht erkennen. Ein Paar Mitte vierzig, sie in Rock und Bluse, er im Sakko ohne Krawatte. LDK-Nummernschild. Dass Kleinhenn seinen Mercedes als Erster startet und mit einem kurzen Quietschen der Reifen losfährt, deutet eher auf einen weiteren geplatzten Deal. Den zehnten, wenn sie richtig gezählt hat. Irgendwas scheint mit Meinrichs Haus nicht in Ordnung zu sein, und wenn sie ehrlich sein solclass="underline" Irgendwas daran gefällt ihr. Thomas hat im Frühjahr allen Ernstes vorgeschlagen, den verrottenden Leitungen unter dem Rehsteig 52 zu entfliehen und einfach ein Haus weiter zu ziehen, aber der Gedanke, in den ehemaligen Räumen der Meinrichs zu leben, erscheint ihr unpassend und geschmacklos. Nicht nur, weil sich an ihrer mangelnden Sympathie für die ehemaligen Nachbarn durch deren Ableben nichts geändert hat (erst sie, dann er, innerhalb von drei Monaten, wie Liebesvögel). Etwas stößt ihr unangenehm auf bei der Vorstellung, in dem Haus zu leben, auf das sie jahrelang bei jedem Blick aus dem Küchenfenster geschaut hat. Als würde sie permanent zurückblicken in die Vergangenheit. Die verrottenden Leitungen sind ein Ärgernis, sogar von Jahr zu Jahr ein größeres, weshalb sie jeden Freitag die Immobilienanzeigen im Boten studiert und hofft, demnächst eine neue Bleibe zu finden. In der Hornberger Straße gibt es Eigentumswohnungen, aber noch weiter den Hang hinaufziehen will Thomas nicht. Sei ihm zu protzig da, sagt er. Monsieur le Bürgerschreck.

«Thomas?«Da sie keine Schritte hört, ruft sie über die Schulter seinen Namen und erschrickt zu Tode, als zwei Meter hinter ihr sein» Ja «erklingt. Mit einer Hand auf der Brust fährt sie herum und muss zwei Mal durchatmen, bevor sie sprechen kann.

«Himmel, hast du mich … Bist du unter die Indianer gegangen?«

«Hugh. Den Regeln des Hauses gehorchend, zog Alter Büffel die Schuhe aus. Im Vorflur.«

«Ich hab die Tür nicht gehört.«

«Weil sie offen stand. «So wie die Küchentür, die er beinahe ausfüllt mit seinen Schultern, während er sie mit amüsierter, leicht spöttischer Miene anschaut, jeweils eine Hand rechts und links gegen den Türrahmen gestützt.»Geht’s wieder?«

Immer noch klopfenden Herzens erwidert sie seinen Blick und nickt. Er hat die Hemdsärmel hochgekrempelt und schaut drein, als wüsste er was, was sie nicht weiß, und unter normalen Umständen würde sie die Neuigkeit auch gerne erfahren, aber es geht auf sechs Uhr los, und vor ihr auf der Anrichte steht das halbfertige Abendessen und verlangt ungeteilte Aufmerksamkeit. Leider besteht Kochen zur Hälfte aus Organisation — wäre es nur Gefühls- und Geschmacksache, wäre sie besser darin, an einem anderen Tag jedenfalls. Heute strebt ihr gesamter Seelenhaushalt ihrem Sohn entgegen wie ein aufgescheuchtes Empfangskomitee, sie kann sich einfach nicht auf die Arbeit konzentrieren.

Wo ist das Kochbuch?

Vorfreude kann ein ausgesprochen anstrengendes Gefühl sein, wenn man es so lange Zeit zu empfinden versucht. Ihre Hände kreisen jetzt über der Anrichte, aber sie weiß gar nicht mehr, wonach sie sucht. Der Schreck über Thomas’ plötzliches Auftauchen in der Küche ist in das diffizile Räderwerk ihrer Konzentration gefahren und blockiert es. Etwas von seinen Einkäufen braucht sie und muss daran denken, die Form für das Kartoffelgratin nicht mit Knoblauch auszureiben, denn Natalie hasst Knoblauch und würde sich das zwar nicht anmerken lassen, meint Daniel, aber das Gratin auch nicht anrühren, sondern es gewissermaßen höflich und unauffällig links liegen lassen. Und dafür verbringt sie ja nicht den halben Tag in der Küche.

«Du machst mich nervös«, sagt sie. Er steht immer noch in der Tür, mit verschränkten Armen jetzt und gegen den Rahmen gelehnt — sie sieht es durch ihren Hinterkopf, mit der Rundumwahrnehmung der hektischen Hausfrau.

«Wie das?«

«Wenn du so hinter mir lungerst wie ein Bär. Geh mir lieber zur Hand.«

«Was soll ich tun?«

«Gib mir als Erstes die süße Sahne.«

Von Knoblauch abgesehen ist Nätty, wie drüben alle sagen, auch nicht kompliziert, hat sie sich versichern lassen. Auf dem jüngsten Foto jedenfalls sieht sie sympathisch aus und — Kerstin hat das nicht denken wollen, aber der Gedanke war schneller — etwas attraktiver, als sie sich die Freundin ihres Sohnes vorgestellt hätte: mit einem offenen Lachen, großen Augen und sichtlich im Reinen sowohl mit sich als auch dem Mann neben ihr, der einmal Daniel Bamberger war, aber jetzt eine Schildmütze trägt, keine Pickel mehr hat und aus dessen Gesichtsausdruck Kerstin stille Freude über die eigene Verwandlung herausliest. Außerdem liegt in seiner Miene eine Selbstzufriedenheit, die ihr bekannt vorkommt aus jener Zeit, die sie in Gesprächen notgedrungen ›meine erste Ehe‹ nennt.

«Nicht im Kühlschrank, in deiner Einkaufstasche«, sagt sie, weil Thomas die Küche durchquert, um ihre Arbeitsanweisung zu befolgen. Hinter ihr bleibt er stehen, und für einen Augenblick lässt sie das Suchen sein und die Hände sinken, in Erwartung einer zärtlichen Berührung und der Bereitschaft, diese zu erwidern. Es ist seltsam, dieses stürmische Verlangen nach einer Umarmung, das sie manchmal überfällt und trotz einiger gemeinsamer Symptome keine Lust ist, nicht sexuell, sondern eine Form stummer Gegenwehr, vielleicht den hektischen Bewegungen ähnlich, mit denen Ertrinkende schließlich beschleunigen, wovor sie sich zu retten versuchen (du übertreibst, würde Thomas sagen). Gegen das Erstarren, denkt sie mangels eines besseren Wortes, und natürlich gegen die Kränkungen, die einem irgendwann ausgerechnet der eigene Körper zufügt. Es gibt Tage, da erinnern die Schwankungen ihrer gefühlten Körpertemperatur an ein Börsenbarometer.

Wo auch immer seine Hände sind, in ihrem Nacken nicht. Sie macht einen halben Schritt nach hinten. Am Nachmittag hat sie gedacht, dass sie ihre Vorfreude in den vergangenen Wochen vielleicht zu sehr für sich behalten hat, statt sie mit ihrem Mann zu teilen. Zwar ist es nicht sein Sohn, der zu Besuch kommt über Grenzgang, aber der Sohn seiner Frau, und genau genommen nimmt sie nicht ihm übel, dass ihm keine Vorfreude anzumerken ist, sondern sich, dass sie seinerseits erst gar keine erwartet. Erstens könnte er sich schließlich ihretwegen freuen, und zweitens ist Daniel älter geworden und hat nicht mehr viel gemeinsam mit dem zornigen Teenager, der die Besuche des Klassenlehrers im Haus ›zum Kotzen‹ fand. Sie hat sich vorgenommen, das Thema im Auto zur Sprache zu bringen, aber Thomas’ Blick von gerade eben lässt sie denken, dass sie sich vielleicht getäuscht hat, weil er seine Gefühle zwar wie immer in Ironie verpacken muss, sie aber dennoch hat. Und immerhin liegt seine Hand jetzt auf ihrer Schulter, wenn auch steif und reglos.

«… hab ich vergessen, fürchte ich.«

«Die Sahne?«Ein sirrender Alarm in der Schläfe, dem Seismographen unter ihren Körperpartien. Sie braucht die Sahne jetzt.

«Alles. Ich war gar nicht einkaufen.«

«Nein«, sagt sie, und das meint sie wörtlich. Schon seit Monaten hat sie das Gefühl, stimmungsmäßig nicht mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, sondern über einen Steg aus morschen Planken zu laufen, von dem sie nicht weiß, welchen Abgrund er verdeckt; nur dass sie es schon in der nächsten Sekunde erfahren könnte, scheint gewiss. Aber am Ende ist all das vorsichtige Balancieren sowieso umsonst. Die einfachsten Dinge, etwa die Zubereitung eines Abendessens, erweisen sich als undurchführbar, und wahrscheinlich wird er als Nächstes um Entschuldigung bitten, so als wäre ihm nur ein weiteres kleines Missgeschick unterlaufen, eine Unachtsamkeit. Bedauerlich, aber menschlich.