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Seine Hand sitzt ihr wie eine Kröte auf der Schulter und ekelt sie geradezu an.

«Sieh mich an«, sagt er. Nimmt die andere Hand auf die andere Schulter und dreht sie herum wie … so.

Sie riecht den Hauch von Altenheim in seiner Kleidung, das scharfe Putzmittel, das dort in Unmengen benutzt wird und doch nicht ankommt gegen den Verfall, dessen Sporen sich an jeden hängen, der die Räumlichkeiten des Heims betritt. Dazu leichter Schweißgeruch aus seinem Hemd, weil er die Arme vor und zurückbewegt, als wollte er herausschütteln, was ihr wie ein Krampf in der Kehle sitzt. Sie weigert sich ihn anzusehen. Nein, nicht einmal eine Entschuldigung hält er für nötig, so sehr mag er sich jetzt, genau in diesem Moment, sie kann das noch mit abgewandtem Gesicht sehen, hören, spüren; wie er die Stimme eine halbe Oktave fallen lässt, um den Maßstab seiner Betroffenheit anzuzeigen, und langsam mit den Daumen über ihr Schlüsselbein fährt. Es ist seine Schuld, aber ihm steht der Sinn nicht nach Zerknirschung. Er hält sich längst für den Tröster und sensiblen Wiedergutmacher statt für den Verursacher der Chose.

«Thomas …«Geh zum Teufel und bleib eine Weile dort. Sie wäre wütend genug für einen Streit, aber ihr fehlt die Kraft. Wie kann er sich jetzt so mögen? Wie dieses falsche Verständnis produzieren, als gäbe es dafür in seinem Innern ein eigenes Organ? Denn in Wirklichkeit ist es vor allem Nachsicht mit sich selbst, die er hat, unbegrenzte Großzügigkeit gegenüber seinen eigenen kleinen Fehlern — sagen wir Marotten, nein, sagen wir Eigenheiten und nennen sie ›charmant‹ — und gleichzeitig eine Blindheit für die Tatsache, dass sie sich aufrichtig bemüht und alles viel leichter wäre, würde er das auch tun.

«Sieh mich an, Kerstin. «Stattdessen fühlt er sich bestätigt in seinem tiefen C, dem vokalen Balsam, den er über sein hysterisches Weib gießt.»Sag mir, du brauchst die Sahne unbedingt, und ich fahre los und hole sie.«

Hat sie ihn gebeten, ihren Kopf gegen seine Brust zu legen? Mit beiden Händen wehrt sie seine Zärtlichkeiten ab und fährt sich mit den Zeigefingerspitzen über die Augen.

«Mir egal.«

«Was soll das heißen, mir egal?«

«Was es eben heißt: Mir egal. «Sie befreit sich aus seinem Griff und wendet sich dem Chaos auf der Anrichte zu. Eine Installation von Alltagsgegenständen, die präzise spiegelt, was gerade geschieht: Die Konfrontation zwischen ihrer eigenen angestrengten Bemühung und seiner gelassenen Sabotage. Als ob er nicht wüsste oder nicht wissen wollte, welche Bedeutung dieser Tag für sie hat: das Wiedersehen mit Daniel, das Kennenlernen seiner Freundin, die auf eine Woche angesetzte Inszenierung von Familienleben. Ein Stück, dessen Absetzung vor vierzehn Jahren eine Lücke gerissen hat, die sich nie wird schließen lassen, aber sie hat sich vorgenommen, es diese eine Woche lang trotzdem zu genießen. Mit allem, inklusive der bangen Erwartung, dass Daniel ihr eröffnen wird, nach seinem Abschluss nicht zurück nach Deutschland zu kommen. Aber ihr Mann kann es nicht lassen, schon das bloße Wort ›Familie‹ mit Spießertum und Verstocktheit zu assoziieren und alles in den vagen Bannkreis dieses lächerlichen Verdachts zu stellen, über dem er alleine erhaben thront: dass selbst ein gemeinsames Abendessen nur Maskenball ist und Eiapopeia, Selbstbetrug nach innen und Fassade nach außen. Manchmal bringt er es fertig, in diesem Zusammenhang von Ideologie zu sprechen. (Übrigens thront er nicht erhaben über allem, sondern ist sogar das bevorzugte Objekt seines eigenen Spotts, aber das kommt ihr so falsch und unreif vor, das übergeht sie einfach; wenn er damit anfängt, legt sie sich sofort in die Badewanne.) Wie kann ein Mensch gleichzeitig so feinfühlig und so grob sein? Karin meinte neulich, er sei vielleicht einfach unbewusst eifersüchtig auf Daniel, aber solche Phrasen treiben ihren Blutdruck erst richtig nach oben. Eifersüchtig auf die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn, wie krank muss man dafür sein?

Abgesehen davon mag sie es nicht, wenn Karin über ihren Mann spricht, als wüsste sie, was in ihm vorgeht.

Sie hat die Hände auf die Anrichte gestützt und blickt aus dem Fenster. Trockenes Sommerlaub bedeckt Meinrichs Einfahrt, der Rasen vor der Terrasse steht kniehoch, und die Hecke ist in einem Zustand, dass der alte Nörgler sich im Grab rumdrehen würde, wenn er davon wüsste.

«Kerstin, ich warte.«

«Worauf?«

«Darauf, dass du Vernunft annimmst und mir sagst, ob ich jetzt einkaufen fahren soll oder ob es auch ohne die Sachen geht.«

«Du hast den Einkaufszettel gesehen, oder? Du hast ihn gesehen. Und jetzt sind wir mal ganz vernünftig und fragen uns: Würde ich dir einen so langen Einkaufszettel schreiben, wenn es genauso gut auch ohne die Sachen ginge?«

Er antwortet nicht, und sie hört das Klicken der Uhr an der Wand. Drei Minuten nach sechs. Landung des Flugzeugs in Frankfurt um 20 Uhr 21. Ihre Wut verwandelt sich in Erstaunen darüber, wie verschieden zwei Menschen sein können, und was für einen gewaltigen Umfang das Wort ›Liebe‹ hat. Manchmal reicht Sprache nicht aus, ihn zum Ausdruck zu bringen, und man ist versucht, sich mit spitzen Gegenständen zu behelfen.

«Vielleicht nicht genauso gut, aber …«

«Aber doch ungefähr, nicht wahr: Gratin ohne Sahne, Salat ohne Paprika, Grill ohne Anzünder, Eis ohne …«

«Grillanzünder ist ein gutes Beispiel. Wir haben nämlich einen Elektrogrill.«

Sie dreht sich erneut um, sieht ihm ins Gesicht, sucht nach Spuren von Zuneigung und ist erstaunt, wie leicht die zu finden sind: in seinem Blick, der Mischung aus Müdigkeit, Verzagtheit und vielleicht sogar einem Anflug von Reue. Falten um die Augen hat er und angeschwollene Tränensäcke. Selbst im Streit sieht er so aus, als schaute er die Fernsehnachrichten und befände sich in stiller Sorge über den Lauf der Welt.

«Du glaubst, wir reden über Kleinigkeiten, oder?«, sagt sie.

«Ich glaube, wir reden darüber, dass ich vergessen habe, einen mir aufgetragenen Auftrag auszuführen, weil ich den ganzen Nachmittag in einem …«

Noch während er redet, beginnt sie den Kopf zu schütteln, und als sie zusätzlich die Hand hebt, verstummt er.

«Lass deine Tante aus dem Spiel.«

«Okay, aber ich glaube, wir sollten darüber reden, ob die ganze Idee mit dem Abendessen so gut ist. Um halb neun landet das Flugzeug, bis die beiden durch den Zoll kommen und ihr Gepäck haben, ist es halb zehn, und zurück in Bergenstadt sind wir frühestens um elf.«

«Nach amerikanischer Zeit später Nachmittag, und die beiden haben Hunger. Thomas, ich hab dir gesagt, wenn mein Sohn nach zwei Jahren hierher zu Besuch kommt, dann koche ich für ihn, und du kannst das gerne unvernünftig oder überflüssig finden, aber …«Aber du musst damit rechnen, dass ich dir das verdammt übel nehme!

«Wieso kehren wir nicht unterwegs irgendwo ein?«

«Wieso diskutieren wir darüber, ob ich ein Abendessen für meinen Sohn koche?«Ihre Stimme gewinnt an Volumen.»Wieso sitzt du nicht im Auto und bist unterwegs zum Supermarkt? Wieso glaubst du, mir einfach aufzwingen zu können, was du für vernünftiger hältst, indem du ignorierst, worum ich dich gebeten habe?«

Ihr antworten Stille und das Ticken der Uhr und kurz darauf das Schließen der Haustür. Sie hört seinen Wagen starten und sieht ihm durchs Küchenfenster nach, als er den Rehsteig hinaufrollt und hinter der nächsten Kurve verschwindet. Fünf nach sechs. Um halb sieben wird er zurück sein, wenn keine Zeit mehr bleibt, seine Einkäufe zu verarbeiten. Stattdessen werden sie sich zusammen ins Auto setzen und schweigend nach Frankfurt fahren, froh über das Radio in ihrer Mitte. Irgendwann wird sie ihm kurz die Hand auf das Bein oder die Schulter legen, als Zeichen dafür, dass die erste Post-Streitphase abgelaufen ist. Er wird sich selbst anklagen, den Hauptteil der Verantwortung schultern und vielleicht noch einen Witz über seinen Starrsinn machen. An einer Ampel in Frankfurt oder im Parkhaus des Flughafens werden sie sich sehr kurz küssen. Wahrscheinlich Hand in Hand zur Ankunftshalle gehen. Eine wundervolle Transparenz umgibt das alles. Die gläserne Ehe: Wo sie herkommt und wo sie hingeht, der ganze Weg liegt offen da, und sobald man sich das klarmacht, weiß man überhaupt nicht mehr, wie Streit und Missverständnisse überhaupt aufkommen können. Sie steht in der Küche, massiert sich den Nacken und hätte Lust, mit ihm zu schlafen. Verrückt, oder?