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Mit einem Blick über die Anrichte stellt sie fest, dass sie nichts tun kann außer ein bisschen aufzuräumen. Während sie die Zutaten des Essens verpackt und zurück in den Kühlschrank stellt, nimmt sie innerlich den Faden wieder auf, den sie vorhin verloren hat: Vorfreude kehrt zurück, ein dicker Vogel mit kurzen Flügeln, dem es nicht leichtfällt, sich in der Luft zu halten. Natalie also heißt die Freundin, die Knoblauch verabscheut und es nicht mag, von Fremden umarmt zu werden, aber ansonsten ist sie wirklich überhaupt nicht kompliziert. Man kann sie auch einfach ›Nät‹ nennen. Und Daniel ›Dän‹. Und den einsamen Einkäufer im Supermarkt ›Tom‹. Wer sowieso der Meinung ist, dass familiäre Zusammenkünfte wie Maskenbälle sind, dem macht die Teilnahme unter falschem Namen vielleicht mehr Vergnügen. Sie jedenfalls wird sich die Freude über den Besuch nicht verderben lassen. Sie hat lange genug gewartet.

«Nice to meet you«, sagt sie leise, lässt in der Küche alles stehen und liegen und geht hinaus in den Garten.

* * *

Ihr erster Gedanke war: Was für ein Theater! Eine Mischung aus Karl-May-Festspielen und Großem Zapfenstreich, mit all den Reitern, Uniformen und Befehlen, als ginge es gleich ins Manöver. Fahnen wurden präsentiert, gesenkt und geschwenkt, Meldungen erstattet, Gesellschaften zogen ein und winkten fröhlich, und die ganze Zeit über stand Anita neben ihr auf dem übervollen Marktplatz und murmelte:»Was für eine Bauernshow. «Gewehre über und Gewehre ab (natürlich kein Gewehr weit und breit), präsentieren hier und präsentieren da, linksrum, rechtsrum, Peitschenknall. Aber ihr machte es Spaß, trotz ihrer Müdigkeit und dem leichten Kommerskater, den vier Stunden Schlaf nicht zu vertreiben vermocht hatten. Es war harmlos und liebenswert, und während der endlose Zug sich die Hauptstraße entlang aus dem Ort wand, freute Kerstin sich auf das Wandern im Wald und auf noch mehr Theater während der großen Mittagsrast. Überall Musik, gute Laune und eine kindliche Begeisterung in den Gesichtern sämtlicher Altersklassen. Dann kam der sogenannte Kleiberg, und es wurde richtig lustig: Schwitzend, rutschend und lachend wälzte sich die Grenzgangskarawane die Böschung hinauf, Anita fluchte in einem fort, und Kerstin genoss die Früchte des intensiven Trainings der letzten vier Semester, stieg leichtfüßig bergan und blieb alle zwei Minuten stehen, um auf ihre Freundin zu warten. Ihre Laune wurde besser mit jedem Meter und mit jedem Mal, da sie Anita die Hand hinhielt und sagte:»Lass dir doch helfen, Liebling. «Sie hatte sich die Haare zum Zopf gebunden, trug wadenfreie Hosen und einen Sport-BH unterm T-Shirt, dazu leichte Joggingschuhe, weil sie keine Wanderschuhe besaß. Anita hatte nicht mal auf ihre vielen Armreife verzichtet.

Der Himmel war bewölkt, ohne nach Regen auszusehen. Es ging immer weiter nach oben durch dichten, steilen Wald, in dem das Licht die Tageszeit nicht verriet. Zwischendurch maß Kerstin ihren Puls und freute sich über den Wert von 128. Angesichts der Steigung nicht schlecht. Anitas Gesichtsfarbe sah nach oberhalb von 160 und unterhalb von begeistert aus, aber sie fingerte schon in ihren engen Hosentaschen nach der Zigarettenpackung.

«Vielleicht solltest du wenigstens ab und an mit dem Fahrrad zur Uni fahren«, sagte Kerstin und steckte die erwartet scharfe Antwort ein wie ein Kompliment. Es machte Spaß, Anita ein bisschen überlegen zu sein und es auch zu zeigen. So wie es vor ein paar Jahren Spaß gemacht hatte, ein besseres Abi hinzulegen als Hans seinerzeit. Sie zuckte die Schultern und sah sich um unter den verschwitzten roten Gesichtern, den nassen Nackenpartien und dunkelfleckigen Hemden. Gemeinsame körperliche Anstrengung war ihr angenehm. Die ließ sogar zwischen Fremden eine Art von Kameradschaft entstehen, die das Gegenteil jener Befangenheit war, die sie selbst so oft empfand. Vielleicht studierte sie deshalb Sport.

Applaus brandete auf, als einer der Wettläufer in seiner Trikolore-Uniform den Hang hochtrabte, als wäre es eine Ebene.

«Flotter Kerl«, sagte Kerstin, obwohl sie das Gesicht kaum erkannt hatte — einfach aus Lust, so was in der Art zu sagen.

«Is noch zu ha’m«, sagte hinter ihr ein Mithörer.

«Billich abzuge’m«, warf ein anderer ein.

«Nein danke. «Anita zog an ihrer Zigarette.»Nich mal für geschengt. «Die sprach, fiel Kerstin auf, irgendwie anders, seit sie sich sozusagen in ihrer natürlichen Umgebung befand, in der alle so sprachen, als hätten sie Kiesel im Mund.

«Ich wäre dann so weit.«

«… sagte Kerstin triumphierend.«

«Aber ich warte gerne noch, bis dein Puls sich wieder beruhigt hat. Darf ich mal messen?«Sie drehte das linke Handgelenk — das war unter Sportstudentinnen so: Man trug die Uhr männlich leger auf der Unterseite des Arms — und streckte die Rechte aus zu Anitas Halsschlagader. Die zog zwar den Kopf zur Seite wie ein scheues Pferd, aber Kerstin machte einen Schritt nach vorne und legte ihr drei Finger seitlich unter den Kinnwinkel, auf schweißfeuchte Haut. Zählte und sagte nach dreißig Sekunden:

«Sechsundsiebzig.«

«Geht doch.«

«Mal zwei, Schätzchen. «Sie hielt die Hand einen Augenblick länger an Anitas Hals, wischte ihr über die Wange und sagte:

«Macht hundertzweiundfünzig.«

«Ich leb halt schneller.«

«Hald schnella? Ist deine Zunge auch müde, hab ich dich gestern schon fragen wollen. Du sprichst so komisch, seit wir hier sind.«

Darauf sagte Anita nichts, sondern warf ihre eine Kusshand zu, trat die Zigarette aus und nahm die nächste Etappe in Angriff.

Kurz nachdem sie den Kleiberg erklommen hatten, riss die Bewölkung auf, und die ersten Sonnenstrahlen tauchten den Wald in Licht und Schatten. Die Wege waren schmal, führten über einen steinigen, gezackten Kamm und zwangen den Strom der Wanderer in die Form eines endlosen Lindwurms. Gesang und Schlachtrufe hallten durch den frühen Morgen. Anita traf ein paar Bekannte, und wie schon am Vorabend auf dem Marktplatz fand Kerstin es leicht, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Dörfliches, kleinstädtisches Milieu, vertrautes Terrain. Sie hatte an einem vorbeikommenden Flachmann genippt und spürte angenehme Wärme im leeren Magen, den Geschmack von Kümmel in der Kehle und die erste zarte Andeutung von Trunkenheit zwischen den Schläfen. Möglich, dass sie demnächst mitsingen würde, wenn es in ihrer Umgebung wieder losging damit. Alles was sie in Köln zuletzt bedrückt hatte, war dort geblieben und musste warten, bis sie am Sonntag wieder zurückfuhr. Erst mal stand dieser Grenzgang an und wollte gefeiert werden.

«Erklär mir noch mal die Spielregeln am Rastplatz«, sagte sie.

«Frühstücksplatz.«

«Man geht zu irgendeiner Gesellschaft, lässt sich drei Mal hochwerfen, bezahlt ein paar Mark, bekommt ein Abzeichen und mit dem Abzeichen Getränke — umsonst?«

«That’s right.«

«Das erscheint mir hübsch großzügig.«

«Wir Bergenstädter sind so. Beschenkt mit dieser wunderbaren Natur …«Anita schlug nach einer Mücke auf ihrem Hals,»… teilen wir nur zu gerne mit allen, die sich in unsere Schlucht verirrt haben. Es ist so, wie wenn Leute aus der DDR rüberkommen, die kriegen ja auch ein Begrüßungsgeld, um sich die erste Banane zu kaufen.«