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«Jetz’ geht’s los«, sagte Timo,»jetz’ wird Fangen gespielt.«

«Wieso?«Kerstin hielt die Augen auf den zweiten Wettläufer gerichtet, der seine Peitsche in der Hand hielt und in Richtung des Waldrands spähte. Sein Kollege ließ es derweil knallen.

«Abkürzen geht nich an Grensgang. Is verboten. Aber ’s versuchen natürlich doch immer’n paar durchzukommen.«

Die ersten Ausreißer hatten den Rand der Wiese erreicht und gaben einander Zeichen. Dann rannten drei Halbwüchsige gleichzeitig los. Kerstin reckte den Kopf. Aus der Menge der Wanderer im Halbrund der Kurve kamen Buh-Rufe, Pfeifen und Anfeuerungen, als die drei über die Wiese sprinteten. Der erste Wettläufer brach das Peitschen ab, der zweite rannte nach vorne, um den Ausreißern den Weg abzuschneiden. Der Verlauf des Weges machte aus der Wiese das Innere einer Arena, sonnendurchflutet und im Zentrum der Aufmerksamkeit all derer, die vorschriftsmäßig dem Weg des Mohren folgten. Zwei Ausreißer wurden schnell eingefangen und zurückgeschickt, der dritte kam durch und reckte die Arme in die Höhe, als durchliefe er ein Zielband. Das Publikum beklatschte die Erfolge beider Seiten.

«Wäre doch mal einen Versuch wert«, hörte Kerstin sich sagen. Ihr war nach ein bisschen Abwechslung und Herausforderung, und außerdem sah sie bisher nur Jungs aus dem Zug ausscheren. Frauen konnten schließlich auch schnell laufen, zumindest in Köln. Sie lief die hundert Meter in dreizehn Komma acht (handgestoppt, nicht ganz zuverlässig), und das Ganze hier schien ein Spiel zu sein. Warum also nicht? Sah ihr zwar nicht ähnlich, sich so zu exponieren, aber erstens hatte sie schon was getrunken und zweitens keine Lust, für den Rest der Wanderung einer Unterhaltung über den Charme von Autos beizuwohnen.

«Schaffste nich«, sagte Timo.»Keine Schongs.«

«Warum?«

«Weil«, antwortete Anita,»die beiden nur drauf warten, dass eine Frau sich einfangen lässt.«

«Ich hab nicht vor, mich einfangen zu lassen.«

«Die lassen lieber zehn Männer durchkommen als eine Frau. Erstens wegen der Ehre, und zweitens macht’s halt mehr Spaß, Frauen anzufassen.«

«Wer will’s ihn’n verdengk’n«, hickste Timo ebenso gedankenwie zungenschwer.

«Abwarten. «Kerstin löste ihren um die Hüfte gebundenen Pullover und gab ihn Anita.

«Zehn Mark dagegen«, sagte Timo.

«Okay. «Und damit war’s besiegelt. Kerstin sprang über den Graben neben dem Weg und fühlte auf der Stelle die Blicke, die sich in ihren Rücken bohrten.»Amazonenalarm!«, schrie ein Witzbold. Mit beiden Händen zog sie sich den Zopf zurecht und beugte sich nach vorne, um unter den Ästen hindurch auf die Wiese zu sehen. Zwei Ausreißer wurden links gerade zurück zum Weg eskortiert — der ganze rechte Teil war frei. Noch einmal sah sie sich um und erkannte Anita und Timo, die im Laufschritt nach vorne eilten, um von der Lichtung aus bessere Sicht zu haben. Scheißspiel, dachte sie, aber nun musste sie es wagen. Ihre Augen peilten einen Punkt am anderen Ende der freien Fläche an, ganz rechts außen, bevor der Weg wieder in einer dichten Tannenschonung verschwand. Nicht die kürzeste Strecke, aber am weitesten von den beiden Wettläufern entfernt. Knapp hundert Meter. Kleine trockene Äste knackten unter ihren Füßen. Sie spürte ihr Herz schlagen. Warum mache ich das jetzt? fragte sie sich. Die beiden Wettläufer trabten zurück zur Wiesenmitte, unterhielten sich, richteten was an ihren Peitschen. Je länger sie wartete, desto geringer die Chance. Dann brach jemand auf dem offenen Wegstück aus dem Zug aus, im Rücken der Wettläufer, die erst am einsetzenden Gejohle merkten, was sich tat, und sofort lossprinteten. Und ohne einen weiteren Gedanken lief auch Kerstin los.

Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht, als sie den Schutz der Bäume verließ. Das Gras auf der Wiese war tiefer, der Boden unebener als erwartet. Sie kam ins Straucheln und fasste neben sich ins Gras, wollte schon abbrechen, aber die ersten Zuschauer hatten sie gesehen und begannen zu pfeifen. Wie ein kurzer Stromschlag traf sie der Schock, plötzlich Hunderten von Blicken ausgesetzt zu sein. Eine Sekunde nachdem sie ihm zuwidergehandelt hatte, meldete sich der vertraute Impuls, der sie stets Röcke tragen ließ, die eine Handbreit länger waren als Anitas. Vielleicht war er angeboren, vielleicht hatten Erziehung und Gewohnheit ihn geformt zu dem, was nun das Rückgrat ihres Charakters bildete: den weichen, von aller Arbeit an sich selbst unberührten Kern — ihr eigentliches Ich.

Sie nahm die Arme hoch und rannte.

Ein trockenes Rascheln begleitete die Bewegung ihrer Füße im kniehohen Gras. Insekten summten über der Wiese, rechts öffnete sich ein Wellental aus waldigen Hügeln. Sie kam sich albern vor und gleichzeitig angespornt, gepackt in ihrer Sportlerehre. Das Gefälle der Wiese trieb sie automatisch nach rechts auf die anvisierte Route. Ihre Schritte fanden einen gewissen Rhythmus. Aus dem linken Augenwinkel erkannte sie, dass die beiden Wettläufer den späten Ausreißer gemeinsam gestellt hatten und zurück zum Zug geleiteten. Für einen Moment war sie ganz alleine unterwegs und hatte das Gefühl, dass ihr Herzschlag sich beruhigte, je länger sie lief. Als hätte sie in der Flucht den Impuls zur Flucht abgehängt und liefe einfach so weiter. Dann wurde es immer lauter. Sie hatte zwanzig, dreißig Meter zurückgelegt.»Du schaffst es!«, hörte sie eine Frauenstimme rufen und glaubte, dass es Anitas war. Vierzig Meter. Aus dem ersten plötzlichen Schock wurde Euphorie, das Gefühl, sich selbst entkommen zu sein, samt allen Zweifeln und Bedenken. Sie tat so etwas nicht, und jetzt tat sie es doch, und es fühlte sich großartig an. Wie nackt zu sein ohne die geringste Scham. Wie in ein warmes Meer zu rennen.

Als es noch einmal lauter wurde, wusste sie, dass die Verfolgung begonnen hatte. Im Sprung über eine Vertiefung im Boden wandte sie kurz den Kopf und sah einen der beiden Wettläufer quer über die Wiese schießen, im spitzen Winkel zu ihrer Bahn und vom Gefälle der Wiese begünstigt. Die Unebenheiten im Boden ließen keine optimale Laufhaltung zu, sie musste immer wieder rudern, um nicht die Balance zu verlieren. Auf dem Weg wurde jetzt rhythmisch geklatscht, die Leute blieben stehen und schauten. Und von links oben kam die weiße Gestalt immer näher. Sie spürte den ersten Anflug von Atemlosigkeit, eine Enge in der Kehle. Noch fünfzig Meter bis zum Wegrand, vielleicht weniger. Wenn sie sich noch weiter nach rechts treiben ließ, würde sie direkt in die Tannenschonung laufen. Sie begann sich zu fragen, ob es peinlich war, erwischt zu werden, so als Ortsfremde auf diesem traditionsreichen Fest. Hoffentlich verstand der Typ hinter ihr Spaß. Hoffentlich war es nicht der Kürbis. Er befand sich jetzt fast auf gleicher Höhe, sie liefen die Seiten eines spitzen Winkels entlang und näherten sich dem Punkt des Zusammentreffens.

Ihre Mutter würde sagen: Geschieht dir recht. Da war etwas Unausweichliches in dem Näherkommen seiner Schritte, etwas, das sie hätte wissen können und sogar gewusst hatte, nur um es zu ignorieren im Moment des Loslaufens. Ein unvernünftiger Akt der Freiheit, und alles, worauf sie jetzt noch hoffen konnte, war das Ausbleiben von Reue, sobald der Wettläufer sie eingeholt haben würde. Man entkommt sich eben doch nicht. Schweiß lief ihr über die Schläfen.»Gib auf«, hörte sie seine gepresste Stimme zischen. Fünf Meter waren noch zwischen ihnen, das Rennen war entschieden, sie ließ die angewinkelten Arme ein Stück sinken …

Und dann, als er gerade die Hand nach ihrer Schulter ausstreckte, blieb sie abrupt stehen, er lief vorbei, und sie startete hinter seinem Rücken bergauf, im rechten Winkel zu ihrem bisherigen Laufweg. Donnernder Applaus begleitete das Manöver. Auch wenn man nicht gewinnen kann, muss man so lange wie möglich kämpfen. Kerstin lief der Schweiß ins Ohr, und sie hörte den Jubel nur noch als Rauschen. Spürte die Anstrengung des Bergauflaufens in den Schenkeln. Vernahm in ihrem Rücken ein Stöhnen. Mit letzter schicksalhafter Ergebenheit lief sie dem Ende entgegen. Sah sich dem Ziel näher kommen, aber ihr Verfolger hatte sofort kehrtgemacht und holte rasch auf. Es war ihr egal. Im weiten Rund standen die Wanderer auf dem Weg und klatschten. Lauf, Kerstin, lauf! Dann fühlte sie eine große Hand auf der Schulter, einen festen, aber nicht groben Griff, unter dessen Druck sie die Schritte verlangsamte. Keine zehn Meter vor dem Ziel kam sie zum Stehen und drehte sich um.