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Er hatte denselben begeisterten Gesichtsausdruck wie vorhin auf dem Frühstücksplatz. Sonnenlicht spiegelte sich auf seinem schweißüberströmten Gesicht. Sie wartete auf das Einsetzen von Beschämung und den Wunsch, im Boden zu versinken, aber der kam nicht. So war Sport: Oberhalb von hundertfünfzig Herzschlägen pro Minute weht dein Stolz wie eine Fahne im Wind, flattert durch Sieg und Niederlage und verkündet allen, dass du dein Bestes gegeben hast. Einen Moment lang japsten sie beide nach Luft.

«Starker Lauf …«, brachte er schließlich hervor,»… aber nicht … mit mir. «Er hielt sie am Oberarm jetzt. Halb Arrest, halb Gratulation.

Kerstin hörte Rufe hinter sich auf dem Weg, ohne sie zu verstehen. Das Herz klopfte ihr in der Kehle. Er hatte dunkle Augen und ein rundes, aber dennoch markantes Gesicht. Starke Kieferknochen. Strähnen schwarzen Haares schauten unter dem Rand seiner Mütze hervor. Sein Brustkasten hob und senkte sich. Er hatte die Brust eines Turners, sie sah die Linie zwischen den beiden Muskeln, da wo ihm das weiße Hemd auf der Haut klebte. Für einen schwitzenden Mann roch er ausgesprochen gut. Irgendwie erdig.

Sie sah zurück auf die Stelle, von wo sie losgelaufen war, auf die unscheinbare Reihe von Bäumen am anderen Ende der Wiese. Ein endloser Strom von Wanderern floss vom Frühstücksplatz in ihre Richtung.

«Werd ich jetzt … ausgepeitscht?«, keuchte sie.

«Nur wenn du noch mal lossprintest. «Sein Atem beruhigte sich bereits wieder.»Mann, als ob Wettläufer sein nicht schon anstrengend genug wäre.«

«Wollte mal testen … wie austrainiert ihr seid. Puh.«

«Und?«

«Ganz ordentlich. Aber bestimmt tierisch hohe Laktatwerte. Pass auf, dass du nicht über die anaerobe Schwelle kommst.«

«Die was?«

«Ich mach mir Sorgen um deinen Milchsäuregehalt. Im Blut. «Sie zeigte mit dem Finger auf seine Brust, als wäre Blut ein Organ mit festem Wohnsitz. Hinter ihr war der Applaus erstorben, aber die geballte Aufmerksamkeit hing weiter über der Wiese wie eine Wolke aus hundert Augen. Und ihr gefiel das, so in der euphorisierten Erschöpfung nach dem Lauf. Gefiel ihr genauso wie der verwirrte Gesichtsausdruck des Wettläufers.

«Hast du wenigstens mal deine individuelle Schwelle gemessen?«, fragte sie.

Er sagte nichts. Er hatte gewonnen und sie verloren, aber so wie sie sich gegenüberstanden, war davon nichts zu spüren. Die Schnur seiner Peitsche hatte sich im Laufen gelöst, und er nahm die Hand von ihrem Arm und zog sie wieder fest. Entweder war er schwer von Begriff oder leicht zu beeindrucken, aber sie sah keinen Grund, daran Anstoß zu nehmen.

«Muss ich jetzt wieder bis ganz da hinten zurück?«, fragte sie und schaffte es damit endlich durch den Mantel seiner Sprachlosigkeit.

«Eigentlich ja, aber ich werd eine Ausnahme machen. Du bist hiermit befugt, den kürzesten Weg zurück zum Grenzverlauf zu nehmen. Da hinter dir, würd ich sagen. Allerdings muss ich vorher noch deine Personalien aufnehmen. «Sie standen so nahe beieinander, dass sie die Wärme seines Körpers durch das weiße Hemd rieseln spürte — obwohl es auch die Sonne sein konnte. Außerdem stellte sie fest, dass sie beide gleich groß waren, vielleicht überragte sie ihn sogar um einen Zentimeter.

Die Stimmen hinter ihr wurden weniger und deshalb besser verstehbar.»Was gibt’n das jetzt?«,»Riecht nach Amtsmissbrauch«,»Wettläufer oder Wegläufer?«,»Ausziehen!«Sie klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich zum Gehen.

«Kerstin. Reicht das als Personalie?«

«Fürs Erste. «Er nickte. Offenbar fiel ihm keine witzigere Antwort ein.

Dann ging sie, und als sie sich nach wenigen Schritten noch einmal umdrehte, stand er unverändert und blickte ihr nach. Sein kompakter Schatten fiel hinter ihm auf die Wiese.

«Nimm genug Magnesium zu dir«, rief sie ihm zu, und als er wiederum nur nickte, machte sie eine schnelle Bewegung, so als würde sie erneut lossprinten, links an ihm vorbei auf die Tannenschonung zu. Er zuckte ebenfalls, und sie hob die Arme und sagte:

«Reingefallen.«

«Wir sehen uns«, sagte er und trabte zurück zu seinem Kollegen.

* * *

Er fährt den Rehsteig hinauf und den Kaltenbach hinab, über den Marktplatz und die Rheinstraße entlang Richtung Stadtausgang. Acht Minuten nach sechs zeigt die Uhr im Auto. In seiner Jacketttasche vorne links steckt der Einkaufszettel, wie ein Einstecktuch. Schätzungsweise zwanzig Minuten wird er brauchen für seine Besorgungen, wahrscheinlich länger angesichts des einsetzenden Feierabendverkehrs und der Tatsache, dass sich heute halb Bergenstadt eindeckt mit Proviant und Vorräten für die Grenzgangstage. Überall sind Leute unterwegs mit vorfreudigen Gesichtern. Die Straßen geschmückt und aufgehübscht. Kein Laternenpfahl mehr frei von Grünzeug. Hier und da stehen Kleinlaster am Straßenrand, und Männer mit freiem Oberkörper wuchten die letzten Girlanden und Äste von der Ladefläche, nach Bergenstädter Art: Zwei fassen an, und zwei stehen mit Bierflaschen in der Hand daneben. Die Rheinstraße ist bereits Einbahnstraße zwischen Marktplatz und Rathaus. Weidmann lässt die Scheibe herunter und legt einen Arm ins offene Fenster, leitet mit der Hand heiße ozonhaltige Luft ins Wageninnere.

In den Lahnwiesen übt der Spielmannszug.

Wie immer nach einer Auseinandersetzung mit Kerstin fühlt er sich wohl im Auto. Erfüllt von der Bereitschaft, das entscheidende Versäumnis bei sich selbst zu suchen, und gerade deshalb im Einklang mit sich. Kerstin würde darin einen Hang zur Selbstzufriedenheit sehen, aber für ihn ist es ein Fortschritt gegenüber dem jahrelangen Hadern mit sich selbst, das er schon so oft überwunden geglaubt hat, nur um es irgendwann in einer neuen Erscheinungsform wiederzufinden: in Reizbarkeit, Überheblichkeit, Selbstverleugnung oder Eitelkeit. Wie ein Virus, das je nach Situation und Laune die unterschiedlichsten Symptome hervorrufen kann. Erst seit diesem Sommer hat er das Gefühl, es habe die Serie seiner Mutationen schließlich beendet und sich verflüchtigt. Möglich, dass gerade dieses Gefühl nur ein neues Symptom darstellt, aber dann wäre es zum ersten Mal ein angenehmes, und daran glaubt er nicht. Nein, ihm ist ein echtes Kunststück gelungen: Er hat gegenüber seiner eigenen Frustration den längeren Atem behalten. Hat sie sozusagen müde gelaufen, sie, der Igel, und er, der Hase, der nach zwei Mal hin und her die Situation verstanden und die Konsequenzen gezogen hat: nicht hin und her laufen, sondern weiter. Vor zwei Jahren war das, als Kerstin nach eigenem Bekunden im Begriff stand, ihr Ja-Wort zu überdenken. Das einfachste Prinzip der Welt, man muss nur drauf kommen, und dann seine Frau überzeugen, dass man es wirklich verstanden hat.

Weidmann setzt den Blinker und sieht schon in der Anfahrt auf den Eins-A-Markt den Betrieb am Eingang. Es sind auch nur noch ganz hinten an der Polizeistation Parkplätze frei. Kaum zu glauben, wie viele Leute mit Bierkisten aus dem Supermarkt kommen, als wäre während des Grenzgangs ausgerechnet Bier ein knappes Gut und außerhalb des eigenen Hauses nicht zu bekommen. Er findet eine Parklücke, rollt hinein und bleibt einen Moment lang angeschnallt sitzen, mit beiden Händen am Lenkrad. Es ist merkwürdig, wie es ihm einfach nicht gelingt, diese neue Gelassenheit in eheliche Harmonie zu verwandeln. Im Rückspiegel beobachtet er das Kommen und Gehen im Eingangsbereich des Supermarktes, das Treiben auf dem Parkplatz, und hört das Geräusch von Einkaufswagen auf rauem Asphalt. Nachmittags hat er im Altenheim am Bett seiner Tante gesessen, ihr aus dem Boten vorgelesen und die Zeitung beiseitegelegt, wenn Anni weggedämmert ist. Hat aus dem Fenster im achten Stock auf den Ort geschaut und sich gewundert, dass Liebe so ein autistisches Gefühl sein kann. Beinahe unaussprechlich.