Friedrich Dürrenmatt
Grieche sucht Griechin
Es regnete stundenlang, nächtelang, tagelang, wochenlang. Die Straßen, die Avenuen, die Boulevards glänzten vor Nässe, den Gehsteigen entlang flossen Rinnsale, Bäche, kleinere Flüsse, die Automobile schwammen herum, die Menschen gingen unter Schirmen, waren in Mäntel gehüllt, liefen mit nassen Schuhen und immer feuchten Strümpfen, die Riesen, Putten und Aphroditen, die teils die Balkone der Palais und Hotels trugen, teils sonst an den Fassaden klebten, troffen, tropften, waren übergossen von Wasserfäden, von Vogelmist, der sich auflöste, und unter dem griechischen Giebel des Parlaments suchten zwischen den Beinen und Brüsten der patriotischen Reliefs die Tauben Schutz. Es war ein peinlicher Januar. Dann kam der Nebel, auch er tagelang, wochenlang, eine Grippeepidemie, nicht gerade gefährlich für anständige, sozial gesicherte Leute, zwar einige alte Erbonkel und Erbtanten dahinraffend, einige ehrwürdige Staatsmänner, doch sonst nur massenhaft die Vagabunden unter den Brücken am Strom. Dazwischen wieder Regen. Immer wieder.
Er hieß Amolph Archilochos, und Madame Bieler meinte hinter ihrer Theke:»Der arme Junge. So kann man doch nicht heißen. Auguste, bring ihm noch ein Glas Milch.»
Und sonntags sagte sie:»Bring ihm noch ein Perrier.»
Auguste dagegen, ihr Mann, schmächtig, der Sieger einer legendären Tour de Suisse und der Zweite einer noch legendäreren Tour de France, der im Radfahrerkostüm bediente, in seinem Maillot jaune (sammelte sich doch so ein kleines Publikum von Radsportfreunden), war damit nicht einverstanden.»Deine Liebe, Georgette«, meinte er etwa am Morgen, wenn er aufstand, oder im Bett, oder hinter dem Ofen, wenn sich alles verzogen hatte und er seine dünnen haarigen Beine wärmen konnte,»deine Liebe zu Herrn Archilochos kapiere ich nicht. Ist doch kein Kerl, ist doch ein verklemmter Mensch. Man kann doch nicht sein Leben lang nichts als Milch und Mineralwasser trinken!»
«Auch du hast einmal nichts anderes getrunken«, antwortete dann Georgette mit ihrer tiefen Stimme, indem sie die Arme in die Hüften stemmte, oder, lag sie im Bett, auf dem Busengebirge verschränkte.
«Geb ich zu«, meinte nach langem Nachdenken Auguste Bieler, immer wieder seine Beine massierend.»Doch um die Tour de Suisse zu gewinnen, und ich habe sie gewonnen, bei so hohen Pässen, und beinahe die Tour de France. Da hat der Abstinentismus noch einen Sinn. Aber der Herr Archilochos? Nicht einmal bei einer Frau schlief er je. Dabei ist er fünfundvierzig.»
Das letzte ärgerte Madame Bieler auch, und sie wurde stets verlegen, wenn Auguste in seinem Radfahrerkostüm oder im Bett darauf zu sprechen kam. Überhaupt war nicht zu leugnen, dass Monsieur Arnolph, wie sie Archilochos nannte, gewisse Prinzipien hatte. Rauchen zum Beispiel tat er auch nicht. Fluchen kam noch weniger in Frage. Georgette konnte sich ihn ferner nicht im Nachthemd vorstellen, oder gar nackt, so korrekt, so immer angezogen, wenn auch ärmlich, wirkte er.
Seine Welt war gefestigt, pünktlich, sittlich, hierarchisch. Zu oberst, an der Spitze dieser Ordnung, dieses sittlichen Weltgebäudes, thronte der Staatspräsident.
«Glauben Sie mir, Madame Bieler«, konnte Archilochos etwa sagen, indem er ehrfürchtig nach dem Bild des Staatspräsidenten im Edelweißrahmen starrte, das über den aufgestapelten Schnaps- und Likörflaschen hinter der Theke hing,»glauben Sie mir, unser Staatspräsident ist ein nüchterner Mann) ein Philosoph, ein Heiliger beinah. Raucht nicht, trinkt nicht, ist schon seit dreißig Jahren Witwer, hat keine Kinder. Sie können es in den Zeitungen lesen.»
Madame Bieler wagte nicht so ohne weiteres zu widersprechen. Vor dem Staatspräsidenten hatte auch sie, wie alle in diesem Lande, ein wenig Respekt, war er doch der einzige ruhende Pol im politischen Hin und Her, in der vorüberziehenden Folge der Regierungen, wenn ihr auch ein solcher Ausbund an Tugend unheimlich vorkam. Lieber wollte sie es nicht glauben.
«In den Zeitungen steht's«, meinte Georgette daher zögernd.»Gewiss. Doch wie es in Wirklichkeit ist, weiß kein Mensch. Die Zeitungen lügen, sagt jeder.»
Das sei ein Irrtum, antwortete Archilochos, die Welt sei im Grunde sittlich, und trank feierlich und gemessen Perrier, als wäre es Champagner.
«Auch Auguste glaubt an die Zeitungen.»
«Nein«, sagte Georgette.»Das weiß ich besser. Auguste glaubt den Zeitungen kein Wort.»
«Nun, glaubt er etwa nicht an die Sportresultate, die in den Zeitungen stehen?»
Dagegen wusste Madame Bieler nichts einzuwenden.
«Tugend ist sichtbar«, fuhr Archilochos fort und reinigte seine randlose, verbogene Brille.»Sie leuchtet auf diesem Gesicht und leuchtet auf dem Gesicht meines Bischofs.»
Damit wandte er sich dem Bildnis zu, das über der Türe hing.
Der Bischof sei etwas sehr dick, protestierte Madame Bieler, der könne doch einfach nicht so tugendhaft sein.
Archilochos war in seinem Glauben nicht zu erschüttern.
«Seine Natur«, entgegnete er.»Wenn er nicht tugendhaft, philosophisch leben würde, wäre er noch dicker. Sehen Sie dagegen Fahrcks an. Wie unbeherrscht, wie unmäßig, wie hochmütig. Sündig in jeder Beziehung. Und eitel.»
Er wies mit dem Daumen über seine rechte Schulter nach dem Bild des berüchtigten Revolutionärs.
Madame Bieler blieb hartnäckig.»Eitel kann man doch nicht sagen«, stellte sie fest,»bei diesem Schnauz und bei diesen wilden Haaren. Und mit seinem sozialen Mitgefühl.»
Das sei nur eine besondere Art der Eitelkeit, behauptete Arnolph.
«Mir unverständlich, dass dieser Verführer hier hängt. Kam doch eben aus dem Gefängnis.»
«Oh, man kann nie wissen«, sagte dann jedesmal Madame Bieler und trank in einem Zug ein Glas Campari aus.»Man kann nie wissen. Auch in der Politik muss man vorsichtig sein.»
Der Bischof, um uns wieder seinem Bildnis zuzuwenden — jenes von Fahrcks hing an der gegenüberliegenden Wand —, dieser Bischof war Nummer Zwei in der abgestuften Welt des Herrn Archilochos. Es war kein katholischer Bischof, obgleich Madame Bieler in ihrer Art eine gute Katholikin war, die in die Kirche ging — wenn sie einmal ging —, inbrünstig zu weinen (doch ebenso inbrünstig weinte sie im Kino); es war aber auch kein protestantischer, Auguste Bieler (Gödu Bielers Gusti), aus der deutschen Schweiz eingewandert (Großaffoltern), der erste Gigant der Landstraße, den die Eidgenossenschaft hervorbrachte (>Sport< vom 9. 9. 29), konnte ja keinen Bischof kennen als Zwinglianer (auch dies zwar nur auf seine Art: er hatte keine Ahnung, dass er Zwinglianer war), sondern der Bischof war das Haupt der Altneupresbyteraner der vorletzten Christen, einer vielleicht etwas ausgefallenen und unklaren Sekte, aus Amerika importiert, und er hing nur über der Türe, weil sich Archilochos, das Porträt unter dem Arm, bei Georgette vorgestellt hatte.
Vor neun Monaten. Draußen ein Maientag, große Sonnenflecke auf der Straße, schräge Strahlenbündel in der kleinen Wirtschaft, das goldene Radfahrertrikot Augustes noch einmal vergoldet, ebenso seine traurigen Rennfanrerbeine, die Haare flimmerndes Gewölk.
«Madame«, hatte Archilochos damals zaghaft gesagt,»ich bin gekommen, weil ich das Bild unseres Staatspräsidenten in Ihrem Lokal bemerke. Über der Theke, an einer dominierenden Stelle. Ich bin Patriot und beruhigt. Ich suche einen Platz für meine Mahlzeiten. Ein Heim. Aber es muss immer derselbe Platz sein, am besten in einer Ecke. Ich bin einsam, Buchhalter, lebe rechtschaffen und bin strenger Abstinenzler. Rauchen tue ich auch nicht. Fluchen kommt nicht in Frage.»
Dann hatten sie einen Preis ausgemacht.
«Madame«, hatte er darauf wieder gesagt, ihr das Bild überreicht und sie durch seine staubige kleine Brille wehmütig betrachtet,»Madame, dürfte ich bitten, diesen Bischof der Altneupresbyteraner der vorletzten Christen aufzuhängen. Am besten neben den Staatspräsidenten. Ich kann nicht mehr in einem Raume essen, wo er nicht hängt, und eben deshalb habe ich das Lokal der Heilsarmee verlassen, wo ich vorher aß. Ich verehre meinen Bischof. Er ist ein Vorbild, ein durchaus nüchterner, christlicher Mensch.»