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Archilochos' Glaube war jedoch nicht zu erschüttern.»Man muß den Kern sehen, Madame Bieler«, sagte er,»und der Kern ist gut. Bei jedem Menschen. Der Schein trügt. Mein Bruder, seine Frau und seine Kinderchen sind vornehme Wesen, nur diesem Leben vielleicht nicht so ohne weiteres gewachsen.»

Jetzt aber, wieder an einem Sonntag, doch schon um halb zehn, betrat er aus einem anderen Grunde die kleine Wirtschaft, eine rote Rose im Knopfloch und von Georgette mit Ungeduld erwartet. An allem waren eigentlich nur der endlose Regen, der Nebel, die Kälte, die stets feuchten Socken schuld und die Grippeepidemie, die sich mit der Zeit in eine Darmgrippe verwandelte, bewirkend, daß Archilochos, wir kennen ja sein Zimmer, infolge des nun ständigen Getöses nicht schlafen konnte. Dies alles hatte Arnolph umgestimmt, allmählich, mit den steigenden Fluten in den Straßengräben, und so hatte er nachgegeben, als Madame Bieler wieder an jenem besonderen Punkt ansetzte, der sie ärgerte.

«Sie sollten heiraten, Monsieur Arnolph«, hatte sie gesagt.»Das ist doch kein Leben in Ihrer Mansarde, und immer unter Radsportfreunden zu sitzen, geht doch auch nicht für einen Menschen mit höheren Interessen. Eine Frau sollten Sie haben, die für Sie sorgt.»

«Sie sorgen für mich, Madame Bieler.»

«Ach was, wenn Sie sich eine Frau nehmen, ist das noch ganz anders. So eine mollige Wärme, Sie werden sehen.»

Endlich hatte sie seine Zustimmung erlangt, eine Annonce in >Le Soir< aufzugeben, und gleich Papier, Feder und Tinte geholt.

«Junggeselle, Buchhalter, fünfundvierzig, Altneupresbyteraner, feinfühlend, sucht Altneupresbyteranerin…«schlug sie vor.

«Das ist nicht nötig«, sagte Archilochos.»Ich bekehre meine Frau dann schon zum richtigen Glauben.»

Georgette sah dies ein.»Sucht eine liebe, frohe Frau seines Alters, Witwe nicht ausgeschlossen…»

Ein Mädchen müsse es sein, behauptete Archilochos.

Georgette blieb fest.»Schlagen Sie sich ein Mädchen aus dem Kopf«, meinte sie energisch.»Sie waren noch nie mit einer Frau, und jemand muß wissen, wie man das macht.»

Er stelle sich die Annonce ganz anders vor, wagte Monsieur Arnolph einzuwenden.

«Wie denn?»

«Grieche sucht Griechin!»

«Mein Gott«, staunte Madame Bieler,»sind Sie ein Grieche?«und starrte die eher dicke, ungefüge und nördliche Gestalt des Herrn Archilochos an.

«Wissen Sie, Madame Bieler«, sagte er schüchtern,»ich weiß, daß man sich unter einem Griechen etwas anderes vorstellt, als ich nun einmal bin, und es ist ja auch lange her, seit mein Urahne in dieses Land wanderte, um an der Seite Karls des Kühnen bei Nancy zu sterben. Und so sehe ich denn auch nicht mehr so recht wie ein Grieche aus. Das gebe ich zu. Aber nun, Madame Bieler, in diesem Nebel, in dieser Kälte und in diesem Regen sehne ich mich zurück, wie meistens im Winter, in meine Heimat, die ich nie gesehen habe, nach dem Peloponnes mit seinen rötlichen Felsen und seinem blauen Himmel (ich las einmal im >Match< darüber), und so will ich denn nur eine Griechin heiraten, denn sie wird in diesem Lande ebenso verlassen sein wie ich.»

«Sie sind der reinste Dichter«, hatte darauf Georgette geantwortet und sich die Augen getrocknet.

Und wirklich hatte Archilochos eine Antwort bekommen, schon am übernächsten Tag. Ein kleiner duftender Briefumschlag, ein blaues Kärtchen wie der Himmel des Peloponnes. Chloé Saloniki schrieb ihm, sie sei einsam, und wann sie ihn denn sehen könne.

Auf Anraten Georgettes hatte er darauf mit Chloé schriftlich ausgemacht: >Chez Auguste<, Sonntag, den soundsovielten Januar. Kennzeichen: Eine rote Rose.

Archilochos zog sein dunkelblaues Konfirmandenkleid an und vergaß den Mantel. Er war unruhig. Er wußte nicht, ob er doch lieber umkehren solle, sich in seine Mansarde zu verkriechen, und zum ersten Male war es ihm nicht recht, als vor >Chez Auguste< Bibi wartete, kaum zu erkennen im Nebel.

«Gib mir zwei Lappen und einen Heuer«, sagte Bibi und hielt seine hohle Bruderhand hin:»Magda-Maria hat Englischstunden nötig.»

Archilochos wunderte sich.

«Sie hat einen neuen Freier, hochanständig«, erklärte Bibi,»aber er spricht nur Englisch.»

Archilochos mit seiner roten Rose zahlte.

Auch Georgette war aufgeregt, nur Auguste saß wie immer, wenn keine Gäste da waren, in seinem Radfahrerkostüm beim Ofen, die nackten Beine reibend.

Madame Bieler räumte die Theke auf.»Nimmt mich wunder, was da kommt«, sagte sie.»Schätze was Dickes, Liebes. Hoffentlich nicht zu alt, weil sie nichts davon schreibt. Aber wer tut dies schon gern.»

Archilochos, frierend, bestellte eine Tasse heiße Milch.

Und während er sich die Brille wieder einmal reinigte, die vom Milchdampf angelaufen war, betrat Chloé Saloniki das Lokal.

Archilochos, kurzsichtig, sah Chloé zuerst nur schemenhaft, mit einem großen roten Punkt irgendwo rechts unterhalb der Eiform des Gesichts, die Rose, wie er ahnte, doch das Schweigen, das in der Kneipe mit einem Male herrschte, diese gespenstische Stille, in der nicht ein Glas klirrte, in der kein Atemzug zu hören war, beunruhigte ihn so, daß er seine Brille nicht gleich aufsetzen konnte. Kaum hatte er dies jedoch getan, setzte er sie noch einmal ab, um aufgeregt aufs neue an ihr herumzureinigen. Es war nicht zu glauben. Ein Wunder war geschehen, in einer kleinen Pinte, bei Nebel und Regen. Zu diesem dicklichen Junggesellen und scheuen Menschenfreund, eingesperrt in eine stinkende Mansarde, verschanzt hinter seiner Milch und seinem Mineralwasser, zu diesem mit Prinzipien beladenen und mit Hemmungen befrachteten Unterbuchhalter eines Unterbuchhalters mit seinen ewig feuchten und zerrissenen Socken und seinem ungebügelten Hemd, mit den viel zu kurzen Kleidern, den ausgetretenen Schuhen und verkehrten Meinungen, kam ein so zauberhaftes Wesen, ein so reines Märchen an Schönheit und Grazie, eine so echte kleine Dame, daß sich Georgette nicht zu rühren wagte und Auguste die Radrennfahrerbeine geniert hinter dem Ofen versteckte.

«Herr Archilochos?«fragte eine leise, zögernde Stimme. Archilochos erhob sich, kam mit dem Ärmel an die Tasse, wobei die Milch über seine Brille lief. Endlich hatte er sie wieder auf, und durch die Milchstriemen hindurch blinzelte er nach Chloé Saloniki, ohne sich zu rühren.

«Noch eine Tasse Milch«, sagte er endlich.

«O«, lachte Chloé,»mir auch.»

Archilochos setzte sich, ohne den Blick von ihr wenden zu können und ohne sie einzuladen, was er doch gerne getan hätte. Er fürchtete sich, die unwirkliche Situation bedrückte ihn, und er wagte nicht, an seine Annonce zu denken; verlegen nahm er die Rose von seinem Kittel. In jedem Augenblick erwartete er ihr enttäuschtes Sich-umwenden und Fortgehen. Vielleicht dachte er auch, daß er nur träume. Wehrlos war er der Schönheit dieses Mädchens ausgeliefert, dem Wunder dieses Augenblicks, das nicht zu begreifen war, und von dem er nicht hoffen durfte, daß es mehr denn eine kurze Zeitspanne daure. Er fühlte sich lächerlich und häßlich, riesengroß tauchte mit einem Male die Umgebung seiner Mansarde auf, die Trostlosigkeit des Arbeiterviertels, in welchem er wohnte, die Eintönigkeit seiner Buchhalterei; aber sie setzte sich einfach an seinen Tisch, ihm gegenüber, und sah ihn mit großen, schwarzen Augen an.

«O«, sagte sie glücklich,»so nett habe ich dich mir nicht vorgestellt. Ich bin froh, daß wir Griechen uns gefunden haben. Aber komm, deine Brille ist voll Milch.»

Sie nahm sie ihm vom Gesicht und reinigte sie, offenbar mit ihrem Halstuch, wie es dem kurzsichtigen Archilochos schien, hauchte an die Gläser.

«Fräulein Saloniki«, würgte er endlich hervor, als spreche er sein eigenes Todesurteil aus:»Ich bin vielleicht nicht so ganz ein richtiger Grieche mehr. Meine Familie ist zur Zeit Karls des Kühnen eingewandert.»

Chloé lachte:»Grieche bleibt Grieche.»

Dann setzte sie ihm die Brille auf, und Auguste brachte die Milch.