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«Fräulein Saloniki…»

«Sag doch Chloé zu mir«, sagte sie,»und >du<, jetzt da wir heiraten, und ich will dich heiraten, weil du ein Grieche bist. Ich will dich einfach glücklich machen.»

Archilochos wurde rot.»Es ist das erste Mal, Chloé«, sagte er endlich,»daß ich mit einem Mädchen rede, sonst nur mit Madame Bieler.»

Chloé schwieg, schien über etwas nachzudenken, und beide tranken die heiße, dampfende Milch.

Nachdem Chloé und Archilochos das Lokal verlassen hatten, fand Madame Bieler die Sprache wieder.

«So was Piekfeines«, sagte sie.»Nicht zu glauben. Und ein Armband hatte sie, und eine Kette um den Hals, Hunderttausende von Franken. Muß tüchtig gearbeitet haben. Und hast du den Mantel gesehen? Was dies nur für ein Pelz ist! Eine bessere Frau kann man sich gar nicht wünschen.»

«Blutjung«, staunte Auguste noch immer.

«Ach was«, antwortete Georgette und füllte sich ein Glas mit Campari und Siphon,»die ist schon über dreißig. Aber hergerichtet. Die läßt sich jeden Tag massieren.»

«Tat ich auch«, meinte Auguste,»als ich die Tour de Suisse gewann«, und schaute wehmütig auf seine dünnen Beine:

«Und ein Parfüm!»

Chloé und Archilochos standen auf der Straße. Es regnete immer noch. Auch der Nebel war noch da, finster, und die Kälte, die durch die Kleider drang.

Am Quai gebe es ein alkoholfreies Restaurant gegenüber dem Weltgesundheitsamt, sagte er endlich:»Ganz billig.»

Er fror in seinem zerschlissenen, feuchten Konfirmandenanzug.

«Gib mir den Arm«, forderte ihn Chloé auf.

Der Unterbuchhalter war verlegen. Er wußte nicht recht, wie man das machte. Er wagte kaum, das Wesen anzusehen, das an seiner Seite durch den Nebel trippelte, um die schwarzen Haare ein silberblaues Tuch geschlagen. Er genierte sich ein wenig. Es war das erste Mal, daß er mit einem Mädchen durch die Stadt ging, und so war er eigentlich froh um den Nebel. Von einer Kirche her schlug es halb elf. Sie schritten durch leere Vorstadtstraßen, deren Häuser sich im nassen Asphalt spiegelten. Ihre Schritte hallten an den Wänden wider. Es war, als gingen sie durch Kellergewölbe. Kein Mensch war zu erblicken. Ein halbverhungerter Hund trottete ihnen aus dem Dunkel entgegen, ein verdreckter Spaniel, schwarzweiß, triefend vor Nässe, mit hängenden Ohren und hängender Zunge. Undeutlich waren die roten Straßenlichter zu sehen. Dann rollte sinnlos hupend ein Autobus vorüber, Richtung Nordbahnhof offenbar. Archilochos drängte sich in die weichen Haare ihres Mantels, von der leeren Straße, vom Sonntag, vom Wetter überwältigt, Platz unter ihrem kleinen roten Schirm zu finden. Sie schritten im Takt dahin, fast ein richtiges Liebespaar. Irgendwo sang blechern die Heilsarmee im Nebel, und manchmal drang aus den Häusern das Sonntagmorgenkonzert der Telediffusion, irgendeine Symphonie, Beethoven oder Schubert, mischte sich mit dem Tuten der im Nebel verirrten Automobile. Sie kamen gegen den Strom hinunter, wie sie ahnten, durch gleichförmige Straßen, nun stückweise zu sehen, als es heller wurde, sich immer noch in Grau auflösend. Dann ging es einem unendlichen Boulevard entlang mit immer gleichen langweiligen Häuserfronten, wie nun schon deutlich zu erraten war, mit Stadtvillen längst verkrachter Bankiers und vergilbter Kokotten mit dorischen und korinthischen Säulen vor den Türen, mit steifen Balkonen und hohen Fenstern im ersten Stock, meistens erleuchtet, meist beschädigt, schemenhaft, tropfend.

Chloé begann zu erzählen. Die Geschichte ihrer Jugend, wundersam wie sie selber. Sie erzählte zögernd, oft verlegen. Doch dem Unterbuchhalter kam alles Unglaubwürdige natürlich vor, war es doch ein Märchen, was er erlebte.

Sie war eine Waise (nach ihrer Erzählung), ein Kind griechischer Leute, aus Kreta eingewandert, die in den bösen Wintern erfroren. In einer Baracke. Dann war die große Verlassenheit gekommen. Sie wuchs im Elendsviertel auf, verdreckt, zerlumpt, wie der schwarzweiße Spaniel eben, stahl Obst und plünderte Opferstöcke. Die Polizei verfolgte sie, Zuhälter stellten ihr nach. Sie schlief unter Brücken zwischen Vaganten und in leeren Fässern, scheu und mißtrauisch wie ein Tier. Dann wurde sie von einem archäologischen Ehepaar aufgelesen, buchstäblich, bei einem Abendspaziergang, und in eine Schule gesteckt, zu Nonnen, und lebte nun bei ihren Wohltätern als Dienstmädchen, anständig gekleidet, anständig genährt, eine rührende Geschichte, alles in allem.

«Ein archäologisches Ehepaar?«wunderte sich Arnolph. Er hatte dergleichen noch nie vernommen.

Ein Ehepaar, das Archäologie studiert, verdeutlichte Chloé Saloniki, und in Griechenland Ausgrabungen gemacht habe.

«Sie entdeckten dort einen Tempel mit kostbaren Standbildern, im Moos versunken, und goldenen Säulen«, sagte sie.

Wie denn das Ehepaar heiße?

Chloé zögerte. Sie schien nach einem Namen zu suchen.

«Gilbert und Elizabeth Weeman.»

«Die berühmten Weemans?»

(Eben war im >Match< ein Artikel mit farbigen Bildern erschienen.)

«Die.»

Er werde sie in seine sittliche Weltordnung einbauen, sagte Arnolph. Als Nummer neun und zehn, doch vielleicht auch als Nummer sechs und sieben, indem Maître Dutour und der Rector magnificus Nummer neun und zehn einnehmen könnten, das sei ja immer noch eine Ehre.

«Du hast eine sittliche Weltordnung?«fragte Chloé verwundert.»Was ist denn das?»

Man müsse einen Halt haben im Leben, sittliche Vorbilder, sagte Archilochos, auch er habe es nicht leicht, wenn er auch nicht zwischen Mördern und Vagabunden aufgewachsen sei wie sie, sondern mit Bruder Bibi in einem Waisenhaus; und er begann mit der Schilderung seines moralischen Weltgebäudes.

Das Wetter hatte sich verändert, unmerklich zuerst für die beiden. Der Regen hatte aufgehört, der Nebel sich gelockert. Er war zu gespenstischen Figuren geworden, zu langgestreckten Drachen, zu schwerfälligen Bären und Riesenmännern, die über die Villen, Bankgebäude, Regierungsbauten und Palais rutschten, sich ineinander verschoben, aufstiegen und sich auflösten. Blauer Himmel schimmerte zwischen den Nebelmassen, undeutlich, zart zuerst, nur eine Ahnung von Frühling, der ja noch ferne war, von Sonnenlicht, unendlich fein, dann klarer, strahlender, mächtiger. Auf dem nassen Asphalt machten sich mit einem Male die Schatten der Gebäude, der Laternen, der Denkmäler, der Menschen bemerkbar, und plötzlich traten alle Gegenstände überdeutlich hervor, glänzend im niederbrechenden Licht.

Sie befanden sich am Quai vor dem Staatspräsidenten-Palais. Der Strom war braun und mächtig angeschwollen. Brücken mit rostigen Eisengeländern spannten sich über ihn, leere Lastschiffe zogen davon, windelnbehängt und mit frierenden Kapitänen, die, Pfeife rauchend, auf und ab schritten. Es wimmelte von sonntäglichen Spaziergängern, von feierlichen Großvätern mit herausgeputzten Enkeln, von Familien, die auf den Trottoirs Reihen bildeten. Polizisten standen herum, Reporter, Journalisten, offenbar den Staatspräsidenten erwartend, der denn auch in seiner historischen Karosse aus dem Palais hervorbrach, gezogen von sechs Schimmeln, von seiner berittenen Leibwache mit den goldenen Helmen und den weißen Federbüschen begleitet, irgendwo irgendeinen politischen Akt zu vollziehen, ein Denkmal einzuweihen, einen Orden an einen Busen zu heften oder ein Waisenhaus zu eröffnen. Pferdegetrampel, Fanfarengeschmetter, Hochrufe, Hüte erfüllten die vom Nebel, vom Regen geläuterte Luft.

Da geschah das Unfaßbare.

Im Moment als der Staatspräsident an Chloé und Archilochos vorbeifuhr und Arnolph, erfreut über seine unverhoffte Begegnung mit Nummer eins seiner Weltordnung (die zu erklären er im Begriffe war), nach der spitzbärtigen und ergrauten Exzellenz spähte, die, goldübersät, vom Fenster seiner Karosse eingerahmt, genau dem Bilde glich, das über den Pernod- und Campariflaschen Madame Bielers hing, grüßte mit einem Male der Staatspräsident den Unterbuchhalter, indem Seine Exzellenz mit der rechten Hand winkte, als wäre Archilochos ein alter Bekannter. Und so augenscheinlich war dieses Aufflattern eines weißen Handschuhs, und so deutlich galt es ihm, daß zwei Polizisten mit stattlichen Schnurrbärten Achtungstellung annahmen.