«Der Staatspräsident grüßte mich«, stotterte Archilochos fassungslos.
«Warum soll er dich denn nicht grüßen?«fragte Chloé Saloniki.
«Ich bin doch nur ein unbedeutender Staatsbürger!»
«Als Staatspräsident ist er unser aller Vater«, erklärte Chloé den seltsamen Vorgang.
Da trat ein weiteres Ereignis ein, das Archilochos zwar auch nicht begreifen konnte, das ihn aber mit neuem Stolz erfüllte.
Eigentlich wollte er gerade auf Nummer zwei seiner Weltordnung zu sprechen kommen, auf den Bischof Moser und auf den eminenten Unterschied, der sich zwischen den Altneu- und den Altpresbyteranern der vorletzten Christen gebildet hatte, um dann noch kurz die Neupresbyteraner zu streifen (diesen Skandal innerhalb der presbyteranischen Kirche), als ihnen Petit-Paysan begegnete (Nummer drei der Weltordnung, eigentlich noch nicht an der Reihe), sei es, daß er aus der Weltbank, fünfhundert Meter vom Staatspräsidenten-Palais entfernt, sei es, daß er aus der St. Lukas-Kathedrale kam, die neben der Weltbank stand. Er war in tadellosem Mantel, mit Zylinder und weißem Halstuch, knisternd vor Eleganz. Sein Chauffeur hatte schon die Türe des Rolls-Royce geöffnet, als Arnolph Petit-Paysans ansichtig wurde. Arnolph wurde unsicher. Das Ereignis war einmalig und im Hinblick auf die Erläuterungen, die er Chloé über seine Weltordnung eben gab, instruktiv. Der Großindustrielle kannte Archilochos nicht, konnte ihn auch nicht kennen, war er doch nur ein Unterbuchhalter in der Geburtszangenabteilung, was wiederum Archilochos den Mut gab, auf den Erhabenen hinzuweisen, wenn auch nicht den Mut, ihn zu grüßen (man grüßt keinen Gott). Und so war Archilochos zwar erschrocken, doch geborgen im Bewußtsein, unerkannt am Gewaltigen vorbeiziehen zu dürfen, als, wie eben beim Staatspräsidenten, das Unfaßbare zum zweiten Male geschah: Petit-Paysan lächelte, zog seinen Zylinder, schwenkte ihn, verbeugte sich artig vor dem erbleichenden Archilochos, ließ sich darauf in die Polster seiner Limousine fallen, winkte noch einmal und brauste davon.
«Das war doch Petit-Paysan«, keuchte Archilochos.
«Und?»
«Nummer drei in meiner Weltordnung!»
«Nun?»
«Er grüßte mich!»
«Hoffentlich.»
«Ich bin doch nur ein Unterbuchhalter und arbeite mit fünfzig anderen Unterbuchhaltern in der nebensächlichsten Unterabteilung der Geburtszangenabteilung«, rief Archilochos aus.
«Dann wird er eben ein sozialer Mensch sein«, stellte Chloé fest,»würdig, in deinem sittlichen Weltgebäude den dritten Platz einzunehmen«, über das Erstaunliche dieser Begegnung offenbar noch nicht im Bilde.
Doch die Wunder dieses Sonntags, der mitten im Winter immer strahlender, immer wärmer wurde, mit einem immer blaueren, immer unwirklicheren Himmel, hörten nicht auf: die ganze Riesenstadt schien auf einmal Archilochos zu grüßen, der mit seiner Griechin über die Brücken mit den schmiedeeisernen Geländern und durch die alten Parkanlagen vor den halbzerfallenen Schlössern schritt. Arnolph wurde stolzer, bewußter, sein Gang freier, seine Miene leuchtender. Er war mehr als ein Unterbuchhalter. Er war ein glücklicher Mensch. Elegante junge Männer grüßten ihn, winkten aus Cafes, von Autobussen und Vespas herunter, soignierte Herren mit ergrauten Schläfen, sogar ein belgischer General, mit vielen Orden, vom Nato-Hauptquartier offenbar, der aus einem Jeep stieg. Vor der amerikanischen Botschaft rief ihm der Botschafter Bob Forster-Monroe, begleitet von zwei schottischen Schäferhunden, ein deutliches Hallo zu; während Nummer zwei (Bischof Moser, noch wohlgenährter als auf dem Bilde bei Madame Bieler) ihnen zwischen dem Landesmuseum und dem Krematorium auf dem Weg zum alkoholfreien Restaurant gegenüber dem Weltgesundheitsamt begegnete. Auch Bischof Moser grüßte — das war irgendwie nun schon in der Ordnung —, der Archilochos doch nur von einer Osterpredigt her kannte, bei weitem nicht persönlich, nur als Zuhörer inmitten einer Schar psalmensingender Weiblein, der Bischof, von dessen Leben Archilochos jedoch wohl hundertmal in der Broschüre gelesen hatte, die über diesen vorbildlichen Gegenstand in der Gemeinde verbreitet wurde. Doch schien der Bischof noch verwirrter als das gegrüßte Glied der altneupresbyteranischen Kirche, der er vorstand, denn er verschwand auffallend hastig und überstürzt in einer sinnlosen Nebengasse.
Dann aßen sie zusammen im alkoholfreien Restaurant. Sie saßen an einem Fensterplatz und sahen über den Strom zum Weltgesundheitsamt hinüber mit dem Denkmal eines berühmten Weltgesundheitsämtlers davor, auf dem Möven lagerten, von dem aus sie aufstiegen, um das sie kreisten, und auf dem sie sich wieder lagerten. Beide waren müde vom langen Spazieren und hielten sich die Hände, auch als die Suppe schon vor ihnen stand. Das Restaurant war in der Hauptsache mit Altneupresbyteranern besetzt (nur wenige Altpresbyteraner darunter), mit alten Jungfern meistens und verschrobenen Junggesellen, die der Alkoholbekämpfung zuliebe hieher an den Sonntagen essen kamen, wenn auch der Wirt, ein verstockter Katholik, sich hartnäckig weigerte, Bischof Mosers Bild aufzuhängen; im Gegenteil, neben dem Staatspräsidenten hing der Erzbischof.
Später saßen sie, zwei Griechen unter zwei Griechen, immer enger aneinandergerückt unter einem vermoderten Standbild im alten Stadtpark, das nach den Reiseführern und Stadtplänen Daphnis und Chloé darstellen sollte. Sie sahen zu, wie die Sonne hinter den Bäumen versank, ein roter Kinderballon. Auch hier wurde Archilochos gegrüßt. Sonst nur von Radsportfreunden und Unterbuchhaltern beachtet, schien der unscheinbare Mann (bleich, bebrillt, etwas dicklich) auf einmal die Stadt zu interessieren, Mittelpunkt der Gesellschaft zu sein. Das Märchen nahm seinen Fortgang. Nummer vier zog vorbei (Passap), von einer Schar teils bestürzter, teils begeisterter Kunstkritiker begleitet, hatte der Meister doch seine rechtwinklige Epoche mit den Kreisen und den Hyperbeln eben verlassen und malte von jetzt ab nur noch Winkel von 60° mit Ellipsen und Parabeln, und an Stelle von Rot und Grün Kobaltblau und Ocker. Der Meister der modernen Malerei blieb verwundert stehen, knurrte, musterte Archilochos eingehend, nickte und wandelte davon, weiterdozierend. Dagegen grüßten die ehemaligen Nummern sechs und sieben (jetzt neun und zehn), Maétre Dutour und der Rector magnificus, mit einem Zwinkern, nur ganz unmerklich, waren sie doch an der Seite gewaltiger Gattinnen.
Archilochos erzählte von seinem Leben.»Ich verdiene nicht viel«, sagte er,»die Arbeit ist eintönig, Berichte über die Geburtszangen, und muß exakt ausgeführt werden. Der Chef, ein Vizebuchhalter, ist streng, auch habe ich Bruder Bibi mit seinen Kinderchen zu unterstützen, liebenswerte Menschen, vielleicht etwas wild und natürlich, doch ehrlich. Wir werden sparen und in zwanzig Jahren miteinander Griechenland besuchen. Den Peloponnes, die Inseln. Davon träume ich schon lange, und jetzt, da ich weiß, daß ich mit dir reisen werde, ist der Traum noch schöner.»
Sie freute sich.»Das wird eine schöne Reise werden«, sagte sie.
«Mit einem Dampfer.»
«Mit der >Julia<.»
Er sah sie fragend an.
«Ein Luxusschiff, Missis und Mister Weeman fahren mit ihm.»
«Natürlich«, erinnerte er sich,»das stand auch im >Match<. Doch die >Julia< wird für uns zu teuer sein und in zwanzig Jahren schon verschrottet. Wir fahren mit einem Kohlenschiff. Das kommt billiger.»
Oft denke er an Griechenland, fuhr er darauf fort und schaute dem Nebel zu, der sich anschickte, wiederzukommen und wie leichter, weißer Rauch über den Boden strich. Er sehe dann die alten Tempel deutlich, halbgeborsten, und.die rötlichen Felsen, leuchtend durch die Olivenhaine. Oft komme es ihm vor, als sei er in dieser Stadt im Exil, wie die Juden in Babylon, und der Sinn seines Lebens bestehe darin, einmal zurückzukehren in die alte, längst verlassene Heimat.