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Nun lag der Nebel als weiße Riesenwattebüschel lauernd hinter den Bäumen an den Ufern des Stroms, langsam dahinziehende Lastschiffe umarmend, die brünstig aufheulten, stieg dann auf, flammte violett und begann, sobald die rote, große Sonne gesunken war, sich auszubreiten. Archilochos begleitete Chloé zum Boulevard, in welchem das Ehepaar Weeman wohnte, eine reiche, vornehme Gegend, wie er merkte. Sie gingen an Gittern vorbei, an großen Gärten mit alten Bäumen, hinter denen man die Villen kaum ahnte. Pappeln, Ulmen, Buchen, schwarze Tannen ragten in den silbernen Abendhimmel, verschwanden in den dichter werdenden Nebelwolken. Vor einer eisernen Gittertüre mit Putten und Delphinen, seltsamen Blättern und Spiralen, mit zwei riesigen steinernen Sockeln blieb Chloé stehen, von einer roten Lampe über dem Portal beschienen.

«Morgen abend?»

«Chloé!»

«Wirst du klingeln?«fragte sie und wies auf eine altertümliche Vorrichtung.»Um acht?»

Dann küßte sie den Unterbuchhalter, legte beide Arme um seinen Hals, küßte ihn noch einmal, dann ein drittes Mal.

«Wir fahren nach Griechenland«, flüsterte sie,»in unsere alte Heimat. Schon bald. Und mit der >Julia<.»

Sie öffnete die Gittertüre und verschwand unter den Bäumen und im Nebel, noch einmal zurückwinkend, irgend ein Wort zurufend, zärtlich, wie ein geheimnisvoller Vogel, irgendeinem Gebäude zugehend, das unsichtbar im Park vorhanden sein mußte.

Archilochos dagegen marschierte in sein Arbeiterquartier zurück. Er hatte lange zu gehen: er trottete all den Wegen entlang, die er mit Chloé gegangen war. Er überdachte die Phasen dieses Märchensonntags, blieb vor der verlassenen Bank unter Daphnis und Chloé stehen, dann vor dem alkoholfreien Restaurant, das eben die letzten altneupresbyteranischen Jungfern verließen, von denen ihn eine grüßte, auch wohl an der nächsten Straßenecke auf ihn wartete. Dann ging er dem Krematorium, dem Landesmuseum, dem Quai entlang. Der Nebel war dicht, doch nicht schmutzig wie an den Tagen vorher, sondern zärtlich, milchig, ein Wundernebel wie ihm schien, mit langen goldenen Strahlenbündeln, mit feinen nadligen Sternen. Er erreichte das >Ritz<, und als er am pompösen Eingangsportal vorüberging, mit dem zwei Meter langen Portier im grünen Mantel, den roten Hosen und mit dem großen silbernen Stab, verließen eben Gilbert und Elizabeth Weeman das Hotel, die weltberühmten Archäologen, die er durch die Abbildungen in den Zeitungen kannte. Es waren zwei englische Menschen, auch sie mehr ein Mann denn eine Frau, mit dem gleichen Haarschnitt wie er, beide mit goldenen Zwickern versehen, Gilbert mit einem roten Schnurrbart und einer kurzen Pfeife (die einzigen Merkmale eigentlich, die ihn deutlich von seiner Frau unterschieden).

Archilochos faßte Mut.»Madame, Monsieur«, sagte er:»Respekt.»

«Well«, sagte der Forscher und staunte den Unterbuchhalter an, der in seinem zerschlissenen Konfirmandenanzug und mit seinen ausgetretenen Schuhen vor ihm stand, und den Mrs. Elizabeth verwundert durch ihren Zwicker betrachtete;»well«, und dann sagte er noch» yes».

«Ich habe Sie zu Nummer sechs und sieben meiner sittlichen Weltordnung ernannt.»

«Yes.»

«Sie haben eine Griechin aufgenommen«, fuhr Archilochos fort.

«Well«, sagte Mr. Weeman.

«Auch ich bin ein Grieche.»

«Oh«, sagte Mr. Weeman und zog sein Portemonnaie.

Archilochos wehrte ab.»Nein mein Herr, nein meine Dame«, sagte er.»Ich weiß, vertrauenerweckend sehe ich nicht aus, auch vielleicht nicht gerade griechisch, aber mein Auskommen in der Petit-Paysan-Maschinenfabrik wird ausreichen, mit ihr einen bescheidenen Haushalt zu gründen. Ja, sogar an Kinderchen werden wir denken dürfen, wenn auch nur an drei oder vier, besitzt doch die Petit-Paysan-Maschinenfabrik ein sozial fortgeschrittenes Erholungsheim für werdende Mütter ihrer Arbeiter und Angestellten.»

«Well«, sagte Mr. Weeman und steckte das Portemonnaie ein.

«Leben Sie wohl«, sagte Archilochos.»Gott segne Sie, und in der altneupresbyteranischen Kirche will ich für Sie beten.»

Doch vor der Haustüre traf er Bibi mit der hohlen Bruderhand.

«Theophil mauste in der Nationalbank«, sagte der in seinem Rotwelsch.»Die Polente kam dahinter.»

«Nun?»

«Er muß in den Süden, bis sich die Lage beruhigt hat. Habe fünf Lappen nötig. Ich gebe sie auf Weihnachten retour.»

Archilochos gab ihm Geld.

«Was denn Bruder«, reklamierte der enttäuschte Bibi,»nichts als einen Heuer?»

«Mehr ist nicht möglich, Bibi«, entschuldigte sich Archilochos verlegen und zu seinem Erstaunen ein wenig ärgerlich:»Wirklich nicht. Ich habe mit einem Mädchen im alkoholfreien Restaurant gegenüber dem Weltgesundheitsamt gegessen. Das Menü und eine Flasche Traubensaft. Ich will eine Familie gründen.»

Bruder Bibi erschrak.

«Was willst du mit einer Familie«, rief er empört aus.»Ich habe ja selber eine! Hat sie wenigstens Geld?»

«Nein.»

«Die Branche?»

«Dienstmädchen.»

«Wo denn?»

«Boulevard Saint-Père Nummer 12.»

Bibi pfiff durch die Zähne.

«Geh nun pennen, Arnolph, aber noch einen Heuer.»

In seiner Mansarde angekommen, im fünften Stock, zog er sich aus. Er legte sich ins Bett. Eigentlich hatte er das Fenster öffnen wollen. Es war muffig. Doch waren die Aborte spürbarer als sonst. Er lag im Halbdunkel. An der Fassade gegenüber in den kleinen schmalen Fenstern brannte Licht, einmal in den einen, einmal in den anderen. Das Brausen ließ nicht ab. Abwechselnd leuchtete an der Wand der Mansarde eines der Bilder seiner Weltordnung auf, bald der Bischof, bald der Staatspräsident, jetzt Bibi mit seinen Kinderchen, nun die dreieckigen Vierecke auf dem Bilde Passaps, bald eine der anderen Nummern.

«Morgen muß ich mir eine Photographie der Weemans verschaffen und einrahmen lassen«, dachte er.

Die Luft war so stickig, so dumpf, daß er kaum atmen konnte. An Schlaf war nicht zu denken. Er war glücklich ins Bett gestiegen, nun kamen die Sorgen. Es war ihm unmöglich, mit Chloé in dieser Mansarde zu hausen, einen Haushalt zu gründen, die drei oder vier Kinderchen unterzubringen, die er auf dem Heimweg geplant hatte. Er mußte eine neue Wohnung finden. Dazu besaß er kein Geld, kein Vermögen. Er hatte alles an Bruder Bibi verschenkt. Nun gehörte ihm nichts. Nicht einmal das armselige Bett, der erbärmliche Tisch und der wacklige Stuhl. Er wohnte möbliert. Nur die verschiedenen Bilder seines sittlichen Weltgebäudes waren sein Eigentum. Die Armut bedrückte ihn. Die Zierlichkeit, die Schönheit Chloés brauchte Zierliches und Schönes, spürte er. Sie durfte nicht mehr zu den Brücken am Strom und zu den leeren Fässern in den Abfallgruben zurück. Immer bösartiger, immer widriger kam ihm das Brausen der Wasserspülungen vor. Er schwor, diese Mansarde zu verlassen; schon morgen, nahm er sich vor, würde er eine andere Wohnung suchen. Doch während er überlegte, wie denn dieses Ziel zu verwirklichen wäre, wurde er hilflos. Er sah keinen Weg. Er wußte sich eingesperrt in eine erbarmungslose Maschinerie, ohne Möglichkeit, das Wunder zu verwirklichen, das sich ihm an diesem Sonntag dargeboten hatte. Er wartete hilflos und verzagt den Morgen ab, der sich denn auch mit einem vermehrten Getöse der Wasserspülungen ankündigte.

Gegen acht nun, noch in der Dunkelheit in dieser Jahreszeit, trottete Archilochos, wie jeden Montag aufs neue, mit den Heeren der Buchhalter, Sekretärinnen und Unterbuchhalter in das Verwaltungsgebäude der Petit-Paysan-Maschinenfabrik, ein unscheinbares Partikel nur des grauen Menschenstroms, der sich aus der Metro, aus den Autobussen, aus den Tramwagen und den Vorortbahnen ergoß, sich im Schein der Straßenlampen trübselig dem Riesenwürfel aus Stahl und Glas entgegenwälzte, der ihn verschluckte, aufteilte, sortierte, die Lifts, die Rolltreppen hinauf und hinunter schob, durch die Korridore preßte, erstes Stockwerk: Tankabteilung; zweites Stockwerk: Atomkanonen; drittes Stockwerk: Maschinengewehrabteilung und so fort. Archilochos, eingeklemmt in die Massen, gedrängt und geschoben, arbeitete im siebenten Stockwerk, Geburtszangenabteilung, Büro 12202, in einem der vielen, mit Glas unterteilten kahlen, nüchternen Räume, hatte jedoch zuerst den Hygieneraum zu betreten, zu gurgeln, eine Pille einzunehmen (gegen die Darmgrippe), Maßnahmen, von der sozialen Fürsorge angeordnet. Dann zog er seinen grauen Arbeitskittel an, noch durchfroren, denn nun war zum ersten Mal in diesem Winter die große, schneidende Kälte über die Stadt hergefallen, über Nacht, alles glatt polierend. Er mußte sich beeilen, war es doch schon eine Minute vor acht, und Verspätung wurde keine geduldet (Zeit ist Geld). Er setzte sich an einen Tisch, ebenfalls aus Stahl und Glas, den er mit drei Unterbuchhaltern teilte, mit den Nummern UBI22GZ28, UB122GZ29, UB122GZ30, enthüllte die Schreibmaschine. Die Nummer auf seinem Arbeitskittel war UB122GZ31. Er begann mit noch steifen Fingern zu tippen, der Zeiger der großen Uhr war auf acht gerückt: eine Zusammenstellung über den Geburtszangenumschwung im Kanton Appenzell Innerrhoden hatte er diesen Morgen fertigzustellen. Wie er, klapperten die drei anderen Unterbuchhalter an seinem Arbeitstisch auf ihren Maschinen, die sechsundvierzig weiteren im Raum, Hunderte, Tausende im Haus, von acht bis zwölf, von zwei bis fünf, mit Essen in der Gemeinschaftskantine dazwischen, alle eingeordnet in den Petit-Paysan-Musterbetrieb, von Ministern besucht, von ausländischen Delegationen, von bebrillten Chinesen und wollüstigen Indern, die, sozial interessiert, mit ihren seidenen Frauen durch die Säle schwebten.