Die Mehrheit der intelligenten Spezies in der galaktischen Föderation gehörte zu den Sauerstoffatmern, deren physiologische Klassifikationen sich allerdings enorm unterschieden. Doch eine weit größere Gefahr für Conways Fortbewegung zu Fuß stellte gerade ein Wesen dar, das eine Ebene nur in einem Schutzpanzer durchqueren konnte. Der TLTU-Arzt benötigte eigentlich die dreifachen Schwerkraft- und Druckverhältnisse, als sie auf den Sauerstoffebenen herrschten, und zusätzlich brauchte er extrem heißen Dampf zur Atmung. Der für ihn erforderliche Schutzpanzer wirkte wie ein großer, scheppernder Lastwagen aus längst vergessenen Vorzeiten, dem man um jeden Preis aus dem Weg gehen mußte.
In der nächsten Verbindungsschleuse mußte Conway selbst einen leichten Schutzanzug anlegen, bevor er sich in die neblige, gelbe Welt der chloratmenden Illensaner begab. Hier wimmelte es auf den Korridoren von stacheligen, membranartigen und ungeschützten Bewohnern des Planeten Illensa, und diesmal waren es die sauerstoffatmenden Tralthaner, Kelgianer oder Terrestrier wie er selbst, die in Schutzkleidung steckten oder sich sogar in Spezialfahrzeugen fortbewegen mußten.
Der nächste Abschnitt seines Wegs führte ihn durch das gewaltige Becken der AUGL-Station, wo die bis zu zwölf Meter langen wasseratmenden Wesen von Chalderescol II schwerfällig durch ihre warme, grüne Welt schwammen. Den Schutzanzug brauchte er nicht abzulegen, doch die Notwendigkeit zu schwimmen verringerte seine Geschwindigkeit ein wenig, obwohl der Publikumsverkehr hier nicht sonderlich dicht war. Trotz dieser Unwägbarkeiten waren erst fünfzehn Minuten vergangen, seit er O’Maras Büro verlassen hatte, und von seinem Anzug tröpfelte noch immer chalderisches Wasser, als er auf der Zuschauergalerie der sechsundvierzigsten Ebene ankam. Prilicla traf kurz nach ihm ein.
„Guten Morgen, mein Freund“, begrüßte ihn der Empath und schwang sich auf seinen sechs zerbrechlich wirkenden Beinen geschickt an die Decke, wo er dank seiner mit Saugnäpfen versehenen Füße haftenblieb. Die rollenden Schnalzlaute seiner melodischen cinrusskischen Sprache wurden zunächst von Conways Translator empfangen, dann zum gewaltigen Übersetzungscomputer im Zentrum des Hospitals übertragen und schließlich ohne merkbare Verzögerung als klang- und emotionsloses Terranisch wieder zu seinem Kopfhörer zurückgesendet. Leicht zitternd fuhr der Empath fort: „Wie ich spüre, brauchen Sie Hilfe, Doktor.“
„Ja, allerdings“, entgegnete Conway, dessen Äußerung umgekehrt denselben Übersetzungsprozeß durchlief und bei Prilicla als gleichermaßen emotionsloses Cinrusskisch ankam. „Es geht um Doktor Mannon. Ich hatte leider keine Zeit, Ihnen sämtliche Einzelheiten zu erzählen, als ich Sie eben angerufen hab und.“
„Das ist auch nicht nötig, mein Freund“, erwiderte Prilicla. „Was den Mannon-Vorfall angeht, brodelt es in der Gerüchteküche des Hospitals wieder einmal ganz gehörig. Und Sie wollen jetzt natürlich wissen, was ich alles gehört und gespürt hab.“
„Sicher, aber nur wenn es Ihnen nichts ausmacht“, bat Conway entschuldigend.
Prilicla entgegnete zwar, es mache ihm natürlich nichts aus, aber der Cinrussker war nicht nur das liebenswerteste Lebewesen im gesamten Hospital, sondern obendrein auch der größte Lügner.
Er gehörte der physiologischen Klassifikation GLNO an, einer insektenartigen Spezies mit sechs streichholzdünnen Beinen, einem Ektoskelett und zwei schillernden, nicht ganz verkümmerten Flügelpaaren. Diese Wesen besaßen hochentwickelte empathische Fähigkeiten. Nur auf seinem Heimatplaneten Cinruss, auf dem weniger als ein Zwölftel der Erdanziehungskraft herrschte, hatte eine Insektenspezies zu solcher Größe heranwachsen und mit der Zeit Intelligenz und eine fortschrittliche Kultur entwickeln können. Im Orbit Hospital allerdings befand sich Prilicla den größten Teil seines Arbeitstags in echter Todesgefahr. Außerhalb seiner Unterkunft mußte er überall Schwerkraftneutralisatoren, sogenannte G-Gürtel, tragen, weil er unter dem Druck der Anziehungskraft, den die Mehrheit seiner Kollegen für normal hielt, regelrecht zermalmt worden wäre. Und wenn sich Prilicla mit irgend jemandem unterhielt, begab er sich sofort außer Reichweite seines Gegenübers, denn schon durch eine einzige gedankenlose Bewegung eines Arms oder Tentakels hätte ihm ein Bein abgerissen oder gar sein ganzer zerbrechlicher Körper zerstört werden können. Damit ihm ein solches oder ähnliches Schicksal erspart blieb, wenn er zum Beispiel andere Ärzte auf einer Visite begleitete, hielt er mit seinen Kollegen Schritt, indem er an den Korridorwänden oder an der Decke entlanglief.
Natürlich wollte niemand im Krankenhaus Prilicla auf irgendeine Weise mutwillig verletzen, denn dazu war er bei allen viel zu beliebt. Seine empathischen Fähigkeiten sorgten dafür, daß der kleine Cinrussker stets die passenden Worte fand oder das Richtige tat, wenn sich andere Wesen in seiner Umgebung befanden — als ein für Emotionen empfängliches Lebewesen etwas anderes zu tun, hätte nämlich bedeutet, durch eigene gedankenlose Handlungen beim Gesprächspartner hervorgerufene Gefühle des Zorns oder des Kummers buchstäblich ins Gesicht zurückgeschlagen zu bekommen. Deshalb war der kleine Empath gezwungen, permanent zu lügen und immer freundlich und rücksichtsvoll zu sein, um die emotionale Ausstrahlung der Wesen in seiner Umgebung für sich selbst so angenehm wie möglich zu gestalten.
Ganz anders verhielt es sich, wenn ihn seine dienstlichen Pflichten daran hinderten, sich Schmerzempfindungen und heftigen Emotionen eines Patienten zu entziehen, oder wenn er einem Freund helfen wollte.
Kurz bevor Prilicla mit seinem Bericht anfing, sagte Conway: „Ich bin mir selbst nicht sicher, wonach ich eigentlich suche, Doktor. Aber falls Sie sich an irgend etwas erinnern können, das an den Handlungen oder Emotionen Mannons oder seines Mitarbeiterstabs in irgendeiner Weise ungewöhnlich war, dann.“
Bei der Erinnerung an den Gefühlssturm, der vor zwei Tagen in dem jetzt leerstehenden hudlarischen OP gewütet hatte, zitterte Prilicla plötzlich am ganzen Körper, und er beschrieb Conway das Geschehen, wie es sich noch zu Beginn der fraglichen Operation an dem hudlarischen Patienten dargestellt hatte. Er selbst hatte es damals nicht für notwendig gehalten, sich mit Hilfe eines Schulungsbands über die Physiologie der Hudlarer zu unterrichten, und hatte deshalb den eigentlichen Operationsverlauf geistig nicht nachvollziehen können, zumal der Patient narkotisiert worden war und fast keine Emotionen ausgestrahlt hatte. Mannon und seine Mitarbeiter hingegen waren ganz auf ihre Arbeit konzentriert und hatten deshalb kaum noch andere Gedanken oder Gefühle ausgestrahlt. Und dann war Chefarzt Mannon dieses. Mißgeschick passiert. Eigentlich hatte es sich dabei um fünf einzelne und vollkommen verschiedene Mißgeschicke gehandelt.