„Drehen Sie die Lautstärke runter, Prilicla!“ schrie O’Mara. Dann knurrte er mit leiserer, wütender Stimme: „Ich nehme an, einer von uns weiß, was wir hier tun, oder?“
„Ich glaube schon“, antwortete Conway, der sich sofort angesprochen fühlte. „Können Sie ihn nicht mehr beschleunigen? Im Schiff hat er sich viel schneller gedreht als jetzt. Prilicla?“
„Er ist. er ist kaum noch am Leben.“
Sie taten alles mögliche, um die Drehung des Aliens zu beschleunigen, während sie ihn gleichzeitig auf den Beckenabschnitt zurollten, der für ihn vorbereitet worden war. Dieser Abschnitt enthielt das komplizierte Riesenrad, das Conway bestellt hatte, und eine wässrige Atmosphäre, die der Suppe in den Meeren vom Fleischkloß einigermaßen entsprach. Zwar war es keine exakte Reproduktion, weil die in dieser Suppe aufgelösten Substanzen nicht aus den lebenden Organismen bestand, die man im Original gefunden hatte, sondern nur aus künstlichen Stoffen, doch hatte sie denselben Nährwert. Da diese Brühe zudem ungiftig war, soweit es die restlichen Wasseratmer betraf, die diese Station zu benutzen pflegten, hatte man die Unterkunft des Astronauten nicht extra durch Metallwände mit einer Luftschleuse, sondern nur durch eine transparente Plastikwand abtrennen müssen. Dadurch konnte der Patient nun sehr viel schneller in den ihm zugeteilten Abschnitt und auf das Rad gebracht werden.
Schließlich hatte man ihn an der richtigen Stelle untergebracht. Er war am Rad angebunden worden und drehte sich mit gleicher Geschwindigkeit und in derselben Richtung wie seine „Liege“ in der Kommandokapsel. Mannon, Prilicla und Conway schnallten sich selbst in der Nähe des Patienten an, wobei sie darauf achteten, gleichzeitig so nahe wie möglich am Mittelpunkt des Rads zu sein. Während sie bereits mit der Untersuchung begannen, gesellte sich weiteres OP-Personal zu ihnen. Spezialinstrumente, Diagnosegeräte und das gedankengesteuerte „Spezialwerkzeug“ trafen ein und wurden am Rad befestigt, das sich in der fast undurchsichtigen Suppe unaufhörlich drehte.
Gegen Ende der ersten Stunde befand sich der Patient noch immer in tiefer Bewußtlosigkeit.
O’Mara und Skempton zuliebe, die ihre Plätze auf dem Rad Mitgliedern des Operationsstabs überlassen hatten, sagte Conway: „Durch diese Brühe hindurch kann man selbst auf kurze Entfernung kaum etwas sehen. Da der reflexbedingte Atmungsvorgang eine Nahrungsaufnahme einschließt, und weil der Patient lange Zeit zu wenig Nahrung und Wasser hatte, ziehe ich es trotzdem vor, in dieser trüben Suppe zu arbeiten als in klarem und nährstofffreiem Wasser.“
„Essen ist auch meine Lieblingsmedizin“, bemerkte Mannon.
„Ich frage mich immer noch, wie solch eine Lebensform entstanden sein kann“, fuhr Conway fort. „Vermutlich fing alles in irgendeinem großen, flachen Gewässer an, das von den Gezeiten abhängig war. Dieses Gewässer muß so beschaffen gewesen sein, daß die Auswirkungen von Ebbe und Flut das Wasser ständig im Kreis bewegten, anstatt es steigen und sinken zu lassen. Der Patient hat sich vielleicht aus einem vorzeitlichen Tier entwickelt, das dauernd von den kreisförmigen Gezeiten an den flachen Stellen herumgerollt wurde und während dieser rotierenden Bewegung Nahrung aufnahm. Später entwickelte diese prähistorische Kreatur spezialisierte Organe und eine Muskulatur, die es ihr ermöglichten, sich selbst zu rollen, anstatt sich auf die Gezeiten und Strömungen zu verlassen. Zusätzlich bildeten sich Greiforgane in der Form dieser Fransenkante aus kurzen Tentakeln, die zwischen den Reihen von Kiemenöfffnungen und Augen aus dem Körper wachsen. Ihre Sehorgane müssen wie eine Art Zölostat funktionieren, da der Inhalt ihres Blickfelds ständig rotiert.
Die Fortpflanzung findet wahrscheinlich durch direkte Zellteilung statt“, fuhr er fort, „und sie rollen jede Minute ihres Lebens, denn Stillstand bedeutet Tod.“
„Aber warum?“ warf O’Mara ein. „Warum muß sich dieses Wesen ständig drehen, obwohl es Wasser und Nahrung ohne jede Bewegung einsaugen könnte?“
„Wissen Sie überhaupt, was dem Patienten fehlt, Doktor Conway?“ fragte Skempton aufgeregt und fügte dann besorgt hinzu: „Können Sie ihn behandeln?“
Mannon gab einen Laut von sich, der ein spöttisches Grunzen sein konnte, ein bellendes Lachen oder vielleicht bloß ein ersticktes Husten.
Conway antwortete schließlich: „Ja und nein, Sir. In gewissem Sinn müßte die Antwort allerdings auf beide Fragen ja lauten.“ Er sah kurz O’Mara an, um ihn mit in das Gespräch einzubeziehen und fuhr fort: „Das Wesen muß rollen, um am Leben zu bleiben. Dabei wendet es eine glänzende Methode an, sich wie ein aufrechter Reifen zu drehen. Es verlagert nämlich permanent seinen Schwerpunkt, indem es den Körperabschnitt, der als nächstes oben sein soll, teilweise mit Luft aufpumpt. Das ununterbrochene Rollen läßt sein Blut zirkulieren — es verwendet ein Gravitationsversorgungssystem anstatt einer Muskelpumpe. Sehen Sie, dieses Geschöpf hat nämlich kein Herz, überhaupt keins. Wenn es zu rollen aufhört, stoppt auch der Blutkreislauf, und es stirbt innerhalb weniger Minuten.
Das Problem ist“, schloß Conway grimmig, „daß wir den Blutkreislauf des Patienten möglicherweise schon zu oft unterbrochen haben.“
„Ich muß Ihnen ausnahmsweise einmal widersprechen, mein Freund“, entgegnete Prilicla, der in der Regel nie jemandem widersprach. Der Körper und die dünnen Beinchen des Empathen zitterten, allerdings langsam, ein Indiz dafür, daß er ausgesprochen angenehme Emotionen empfing. Der Cinrussker fuhr fort: „Der Patient erlangt sehr schnell das Bewußtsein zurück. jetzt ist er schon bei vollem Bewußtsein! Er strahlt ein dumpfes, schwer zu lokalisierendes Schmerzgefühl aus, das ziemlich sicher durch Hunger hervorgerufen wird, doch beginnt es bereits abzuklingen. Ansonsten fühlt er sich ein wenig ängstlich. Er ist sehr aufgeregt und vor allem ungeheuer neugierig.“
„Neugierig?“ hakte Conway nach.
„Neugier ist die vorherrschende Emotion, Doktor.“
„Unsere ersten Astronauten waren ebenfalls ganz besonders neugierige Leute.“, merkte O’Mara an.
Danach verging noch mehr als eine Stunde, bis sie endlich mit dem Astronauten vom Fleischkloß fertig waren — natürlich rein medizinisch gesprochen — und aus ihren Anzügen herausstiegen. Ein Sprachenexperte des Monitorkorps teilte sich mittlerweile mit dem Alien das Riesenrad, um dem Übersetzungscomputer des Orbit Hospital möglichst rasch eine neue ET-Sprache beizubringen. Colonel Skempton war vorzeitig gegangen, weil er für den Captain der Descartes eine recht komplizierte Mitteilung zu verfassen hatte.
„Nicht alle Neuigkeiten sind gut“, sagte Conway, wobei er trotzdem vor Erleichterung unwillkürlich lächeln mußte. „Erst einmal hat unser „Patient“ an nichts anderem als an Unterernährung und partiellen Erstickungserscheinungen gelitten und natürlich auch an den zusätzlichen Torturen, die ihm durch die Rettung — oder besser Entführung — der Descartes zugefügt worden waren. Leider zeigt er keine besondere Begabung für die Benutzung des gedankengesteuerten Werkzeugs — er kennt es nicht einmal. Das kann nur bedeuten, daß es noch eine zweite intelligente Spezies auf dem Fleischkloß geben muß. Doch sobald unser Freund richtig sprechen kann, werden wir ihn nach meinem Dafürhalten schnell davon überzeugen können, uns bei der Suche nach den wirklichen Besitzern dieses Wunderwerkzeugs behilflich zu sein. Laut Prilicla empfindet er uns gegenüber nicht einmal feindliche Gefühle, weil wir ihn einige Male beinahe getötet hätten. Ich hab wirklich keine Ahnung, wie wir es nach all den begangenen Fehlern geschafft haben, doch noch so glimpflich aus der Sache herauszukommen.“
„Falls Sie damit versuchen, mir ein Kompliment über Ihre glanzvollen Schlußfolgerungen beziehungsweise Zufallstreffer zu entlocken, dann verschwenden Sie damit nur Ihre und meine Zeit.“, erwiderte O’Mara griesgrämig.
„Was halten Sie davon, wenn wir alle gemeinsam zu Mittag essen?“ schlug Dr. Mannon vor.