Der Offizier, der hinter dem Captain stand, drehte sich um. Es war Harrison. Conway begrüßte ihn mit einem Nicken und fragte lächelnd: „Wie geht’s Ihrem Bein, Lieutenant?“
„Ganz gut, Doktor“, antwortete Harrison, und in betont ernstem Ton fügte er hinzu: „Es macht mir nur ein bißchen zu schaffen, wenn es regnet, aber das kommt auf einem Raumschiff ja nur höchst selten vor.“
„Wenn Sie schon ein Gespräch führen müssen, Harrison“, mischte sich der Captain mit unterdrücktem Ärger ein, „dann führen Sie bitte wenigstens ein halbwegs intelligentes Gespräch.“ Zu Conway sagte er forsch: „Doktor, das Regierungssystem von Surreshuns Spezies geht vollkommen über meinen Verstand — wenn überhaupt, scheint es eine Art paramilitärischer Anarchie zu sein. Aber wir müssen uns mit seinen Vorgesetzten in Verbindung setzen oder, wenn das mißlingt, mit seiner Freundin oder seinen engen Verwandten. Das Problem ist, Surreshun versteht nicht einmal den Begriff elterlicher Zuneigung, und seine sexuellen Beziehungen scheinen ungewöhnlich kompliziert zu sein.“
„Das kann man wohl sagen“, warf Conway voller Verständnis ein.
„Nun, offensichtlich wissen Sie über dieses Thema mehr als wir“, fuhr der Captain fort, wobei man ihm seine Erleichterung anmerken konnte. „Das hab ich auch gehofft. Schließlich haben Sie mit ihm nicht nur ein paar Minuten lang seine Gedanken geteilt, sondern er war, wie man mir gesagt hat, auch ihr Patient, nicht wahr?“
Conway nickte. „Er war zwar kein wirklicher Patient, Sir, weil er gar nicht krank war, aber während der vielen physiologischen und psychologischen Tests hat er eng mit uns zusammengearbeitet. Er ist immer noch darauf versessen, endlich nach Hause zurückzukehren, doch liegt ihm fast genausoviel daran, zwischen uns und seinem Volk freundschaftliche Kontakte zu knüpfen. Was ist also das Problem, Sir?“
Das Problem des Captains bestand hauptsächlich darin, daß er nicht nur selbst mißtrauisch war, sondern von den Bewohnern des Fleischkloßes glaubte, ähnlich skeptisch zu sein, wozu sie allerdings auch allen Grund hatten: Surreshun, als das erste Wesen ihrer Spezies im All, mußte in ihren Augen von der Frachtschleuse der Descartes regelrecht verschlungen und schließlich verschleppt worden sein.
„Sie hatten zwar damit gerechnet, mich zu verlieren“, fügte Surreshun an diesem Punkt hinzu, „aber bestimmt nicht damit, daß ich entführt werden würde.“
Die nachfolgende Reaktion der Planetenbewohner auf die erste Rückkehr der Descartes war also vorhersehbar gewesen — und tatsächlich hatten sie mit sämtlichen ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln dem Schiff einen bösartigen Empfang bereitet. Den Nuklearraketen konnte die Descartes damals zwar mit Leichtigkeit ausweichen und sie genauso leicht zerstören, dennoch zog Captain Williamson das Schiff zurück, weil die Sprengköpfe zu einem besonders schmutzigen Typ gehörten und dem Leben auf der Planetenoberfläche durch den atomaren Fallout ernsthaft geschadet hätten, wenn er eine Fortsetzung des Angriffs zugelassen hätte.
Jetzt kehrte die Descartes erneut zurück, dieses Mal mit dem ersten Fleischkloß-Astronauten an Bord, und mußte der Obrigkeit des Planeten oder Surreshuns Freunden beweisen, daß ihm nichts Unerfreuliches zugestoßen war.
Am einfachsten schien dies zu bewerkstelligen zu sein, indem man außerhalb der Reichweite ihrer Raketen in die Umlaufbahn eintrat und Surreshun selbst soviel Zeit wie nötig gab, seine Mitwesen davon zu überzeugen, daß man ihn weder einer Folter noch einer Gehirnwäsche unterzogen hatte. Dazu hatte man die Kommunikationsausrüstung seines Raumgefährts bereits nachgebaut, so daß diesbezüglich keine technischen Probleme auftreten sollten. Nichtsdestotrotz hielt Williamson es für ein besseres Verfahren, zunächst selbst mit der Obrigkeit des Fleischkloßes zu reden und sich für das Versehen zu entschuldigen, bevor Surreshun sich zu Wort melden würde.
„Bevor ihr Leute im Orbit Hospital über diese gedankengesteuerten Werkzeuge so aus dem Häuschen geraten seid und euch entschlossen habt, mehr davon haben zu wollen, war der eigentliche Zweck dieses Unternehmens, mit diesen Wesen in freundschaftlichen Kontakt zu treten“, schloß Williamson.
„Ich bin aber nicht ausschließlich aus rein geschäftlichem Interesse mit an Bord, Captain“, verteidigte sich Conway in einem Ton, als hätte er ein schlechtes Gewissen. „Was Ihr Problem betrifft, die Umgangsformen und das Miteinander dieser Spezies nicht zu verstehen, da kann ich Ihnen helfen. Die Schwierigkeit besteht darin, daß unsereins den völligen Mangel an Zuneigung zwischen Eltern und Kindern und das generelle Fehlen jeder anderen emotionalen Beziehung nicht nachvollziehen kann. Denn das einzige von Gefühlen gesteuerte Verhältnis dieser Spezies ist die kurze, aber sehr intensive Bindung, die vor und während des Paarungsvorgangs besteht. Sehen Sie, diese Wesen hassen ihre Eltern regelrecht und jeden anderen, der mit.“
„„Ich kann Ihnen behilflich seine, hat er gesagt“, brummelte Edwards dazwischen.
„…und jeden anderen, der direkt mit ihnen verwandt ist“, fuhr Conway unbeirrt fort. „Außerdem hab ich ein paar von Surreshuns ungewöhnlicheren Erinnerungen im Gedächtnis behalten. Das kann manchmal vorkommen, wenn man durch ein Schulungsband mit einer außergewöhnlich fremdartigen Persönlichkeit konfrontiert wird — und diese Wesen sind allerdings wirklich außergewöhnlich.“
Noch in jüngster Vergangenheit war die Struktur der Fleischkloß-Gesellschaft die vollkommene Umkehrung dessen gewesen, was die meisten intelligenten Spezies für normal hielten. Nach außen hin war sie eine Anarchie, in der die angesehensten Mitglieder krasse Außenseiter waren, Individualisten, die gefährlich lebten, weit reisten und ständig nach neuen Erfahrungen suchten. Natürlich waren für den gemeinsamen Schutz Zusammenarbeit und selbstauferlegte Disziplin notwendig, da diese Spezies viele natürliche Feinde hatte, doch eigentlich war das völlig gegen ihre Natur. Und nur die Feiglinge und Schwächlinge, die ihre eigene Sicherheit und Bequemlichkeit über alles andere stellten, waren in der Lage, die Scheu vor enger körperlicher Zusammenarbeit zu überwinden.
In der Frühzeit wurde diese Gesellschaftsschicht als der absolute Abschaum angesehen, doch gerade jemand aus dieser Schicht hatte eine Methode entwickelt, die es einem Wesen ermöglichte, sich zu drehen und zu leben, ohne über den Meeresboden rollen zu müssen. Diese Methode, sich auf der Stelle drehen zu können, die Fähigkeit zu leben, ohne sich ständig vorwärts bewegen zu müssen, hatte dieselbe Bedeutung wie einst die Entdeckung des Feuers oder die Erfindung des Rads auf der Erde gehabt und war der Anfang der technologischen Entwicklung auf dem Fleischkloß gewesen.
Als das Verlangen nach Bequemlichkeit und gesellschaftlicher Sicherheit und Zusammenarbeit wuchs, verringerte sich die Anzahl der extremen Individualisten — sie neigten sowieso dazu, eines unnatürlichen Todes zu sterben. Dafür erhöhte sich Zahl der Wesen, die sich um die Zukunft sorgten und eine Neugier für ihre direkte Umgebung entwickelten. Um diese Neugier zu befriedigen, waren sie bereit, praktisch ihre gesamte körperliche Freiheit aufzugeben und Dinge zu tun, die als schändlich galten. Zum Schein gestanden sie ihre Schuld und fehlende Machtbefugnis ein, aber in Wirklichkeit waren sie die wahren Herrscher. Die Individualisten, die nominell das Sagen hatten, waren fast ausnahmslos zu bloßen Galionsfiguren verkommen.
Ein weiterer Grund für diese auf den Kopf gestellte Rangordnung war ein tiefer, fortpflanzungsbedingter Abscheu vor allen Blutsverwandten. Die rollenden Wesen auf dem Fleischkloß hatten sich ursprünglich in einem relativ kleinen und begrenzten Gebiet entwickelt und waren gezwungen, sich ständig innerhalb dieses Gebiets fortzubewegen. Da durch diesen Umstand der körperliche Kontakt zu Paarungszwecken — in den Zeiten vor der Entwicklung von Intelligenz natürlich eine völlig instinktive Angelegenheit — viel eher zwischen verwandten als zwischen vollkommen fremden Speziesangehörigen vorkam, hatten diese Wesen einen wirkungsvollen Schutz gegen Inzucht entwickelt.