„Ich hab Hunger, und es ist höchste Zeit, daß wir uns mit Doktor Mannon persönlich unterhalten“, schlug Conway seinem empathischen Kollegen vor. „Lassen Sie uns ihn suchen und zum Mittagessen einladen.“
Die Kantine für das sauerstoffatmende medizinische und Wartungspersonal nahm eine ganze Ebene ein und war früher einmal durch niedrige Trenntaue nach physiologischen Arten unterteilt gewesen. Doch das hatte nicht allzu gut funktioniert, weil die Speisenden sehr oft mit ihren Kollegen anderer Spezies fachsimpeln wollten oder keine freien Plätze mehr in dem ihnen zugeteilten Bereich fanden, dafür aber ungenutzten Raum bei einer anderen Lebensform. Deshalb war es für Conway, Prilicla und Mannon keine Überraschung, als sie bei ihrer Ankunft die Wahl hatten, an einem riesigen Tralthanertisch auf Bänken zu sitzen, die ein ganzes Stück zu weit von der Tischkante entfernt waren, oder an einem Tisch im Bereich der Melfaner Platz zu nehmen, der zwar einen gemütlicheren Eindruck machte, dessen Stühle aber surrealistischen Papierkörben ähnelten. Schließlich wanden sie sich in drei dieser Sitzmöbel hinein und begannen mit den üblichen Vorbereitungen zur Bestellung.
„Ich bin heute nur ich selbst“, antwortete Prilicla auf Conways Frage.
„Für mich also das Übliche, bitte.“
Conway bestellte ihm das Übliche, nämlich eine dreifache Portion Spaghetti terrestrischer Art, dann blickte er Mannon fragend an.
„Mir spuken zur Zeit ein FROB und ein MSVK im Kopf herum“, klärte ihn der Chefarzt im schroffen Ton auf. „Hudlarer sind mit Essen ja nicht gerade pingelig, aber diese verdammten MSVKs sind doch schon beleidigt, wenn nicht gleich alles, was man ihnen vorsetzt, wie Vogelfutter aussieht! Bestellen Sie mir einfach irgend etwas Nahrhaftes, aber sagen Sie mir bloß nicht, was es ist, und packen Sie es bitte in ein paar Sandwiches, damit ich das Zeug nicht sehen kann.“
Während sie auf ihr Essen warteten, sprach Mannon mit ruhiger Stimme. Die Normalität seines Tons wurde jedoch durch die Tatsache Lügen gestraft, daß Prilicla durch Mannons emotionale Ausstrahlung wie ein Blatt im Wind geschüttelt wurde. „Laut Gerüchteküche wollen Sie beide versuchen, mir aus der Patsche zu helfen, in der ich stecke“, begann Mannon. „Das ist zwar nett von Ihnen, aber Sie verschwenden damit nur Ihre Zeit.“
„Das glauben wir beide allerdings nicht, Doktor. und auch O’Mara nicht“, erwiderte Conway, womit er die Wahrheit erheblich zurechtstutzte. „O’Mara hat bescheinigt, daß Sie in guter geistiger wie körperlicher Verfassung sind, und er meinte, Ihr Verhalten sei für Sie völlig uncharakteristisch gewesen. Dafür muß es eine Erklärung geben, vielleicht irgendeinen Umwelteinfluß oder etwas, dessen Vorhandensein oder Fehlen Sie dazu gebracht hat, sich, wenn auch nur zeitweilig, in untypischer Weise zu verhalten.“
Conway umriß kurz das Wenige, das sie bislang wußten, und bemühte sich, hoffnungsvoller zu klingen, als er wirklich war. Aber Mannon war kein Narr.
„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen für Ihre Bemühungen dankbar sein soll oder mich lieber um das geistige Wohlbefinden von Ihnen beiden sorgen soll“, entgegnete Mannon, als Conway ausgeredet hatte. „Diese eigenartigen und ziemlich verschwommenen geistigen Echoeffekte sind. sind doch. Ach, auch auf die Gefahr hin, unseren Freund Daddy Langbein hier zu beleidigen, würde ich behaupten, daß sich sämtliche sogenannten Eigentümlichkeiten nur in Ihren eigenen starrsinnigen Querköpfen abspielen. Ihre Versuche, Entschuldigungen für mich zu finden, sind zwar ehrenhaft, aber absolut lächerlich!“
„Ausgerechnet Sie müssen mir erzählen, ich sei ein starrsinniger Querkopf“, erwiderte Conway gereizt.
Mannon lachte leise vor sich hin, doch Prilicla zitterte schlimmer denn je.
„Eine Sache oder eine Person oder irgendein Ereignis,“ fuhr Conway fort, „deren An- oder Abwesenheit möglicherweise Auswirkungen auf Ihre.“
„Du meine Güte!“ platzte Mannon heraus. „Sie denken doch nicht etwa an meinen Hund?“
Natürlich hatte Conway an Mannons Hund gedacht, aber um das ausgerechnet jetzt zuzugeben, war er in moralischer Hinsicht ein viel zu großer Feigling. Statt dessen sagte er: „Haben Sie denn während der Operation an ihn gedacht, Doktor?“
„Ach was!“ widersprach Mannon empört.
Hierauf folgte ein langes, betretenes Schweigen, in dessen Verlauf die Servierklappen aufglitten und ihre dahinter hochfahrenden Essensbestellungen in Sicht kamen.
Mannon unterbrach die Stille als erster. „Ich hab den Hund wirklich sehr gemocht“, sagte er in ruhigem Ton. „Das heißt, als ich noch ich selbst war. Während der letzten vier Jahre mußte ich wegen meiner Lehraufträge ständig MSVK- und LSVO-Bänder im Kopf mit mir herumschleppen, und in letzter Zeit benötigte ich zusätzlich die Hudlarer- und Melfanerbänder, da ich auf Einladung Thornnastors an einem speziellen Projekt teilnehme. Diese Bänder geistern also auch noch ständig in meinem Kopf herum. Mit einem Gehirn, das glaubt, fünf verschiedene Wesen gleichzeitig zu sein, fünf völlig verschiedene Wesen, da ist man. na, Sie wissen ja, was das heißt.“
Natürlich wußten Conway und Prilicla nur zu gut, was das hieß.
Zwar besaß das Orbit Hospital die notwendige Ausstattung, jede der galaktischen Föderation bekannte intelligente Lebensform zu behandeln, aber kein einzelnes Wesen hätte auch nur einen Bruchteil der für diesen Zweck benötigten physiologischen Daten im Kopf behalten können. Chirurgisches Geschick war eine Frage der Fähigkeiten und der Ausbildung, doch sämtliches Wissen über die physiologische Beschaffenheit eines Patienten wurde durch ein sogenanntes Schulungsband vermittelt. Auf einem solchen Band waren einfach die Gehirnströme einer medizinischen Kapazität aufgezeichnet worden, die der gleichen oder einer ähnlichen Spezies angehörte wie der zu behandelnde Patient. Wenn ein terrestrischer Arzt einen kelgianischen Patienten zu behandeln hatte, speicherte er ein DBLF-Physiologieband im Gehirn und behielt es solange bei sich, bis die Behandlung abgeschlossen war. Danach ließ er es wieder löschen. Die einzigen Ausnahmen stellten Chefärzte mit Lehraufträgen und Diagnostiker dar.
Ein Diagnostiker gehörte zur geistigen Elite und war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurden, permanent sechs, sieben oder gar zehn Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unerforschter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln.
Mit einem Schulungsband wurden einem aber nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingeimpft, sondern auch die Persönlichkeit und das Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen besessen hatte. Praktisch setzte sich ein Diagnostiker somit freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus. Die fremden Persönlichkeiten, die seinen Geist scheinbar mit ihm teilten, konnten unangenehme und aggressive Wesen mit allen Arten von Reizbarkeit und Phobien sein — schließlich sind Genies nur selten charmante Persönlichkeiten. Das wurde nicht nur zu den Essenszeiten deutlich,
sondern insbesondere dann — und auf noch verheerendere Weise —, sobald sich der Bandbesitzer zum Einschlafen entspannen wollte. Die Alpträume von Aliens konnten so entsetzlich alptraumhaft sein und ihre sexuellen Phantasien und Wunschträume vollkommen ausreichen, die betroffene Person wünschen zu lassen, sie wäre lieber tot — vorausgesetzt, sie war überhaupt noch in der Lage, einen zusammenhängenden Wunsch zu äußern.
„Innerhalb weniger Minuten“, fuhr Mannon fort, „veränderte sich der Hund von einer wilden, haarigen Bestie, die entschlossen war, mir die Bauchfedern auszureißen, über ein gehirnloses Fellbündel, das ich mit einem meiner sechs nicht vorhandenen Füße zerquetschen wollte, wenn es mir, verdammt noch mal, nicht aus dem Weg ging, bis hin zu einem absolut normalen Hund, der mit mir nur spielen wollte. Wissen Sie, es war gegenüber dem Köter einfach nicht fair. Zum Schluß war er nur noch ein sehr alter und verwirrter Hund, und ich bin eher glücklich als traurig darüber, daß er gestorben ist.